6. Psychische Wirkungen der Krise
Nachdem wir zu zeigen versucht haben, aus welchen Gründen die jüdische Gruppe sich in besonderer Gefahr befindet, latente gesellschaftliche Unlustgefühle und Feindseligkeit auf sich zu lenken, wollen wir nun die Entstehung menschlicher Aggressivität in ihrer sozialpsychologischen Bedeutung darzustellen versuchen. Dazu bedarf es einer methodologischen Vorbemerkung:
Soweit wir bisher objektive und subjektive Gründe für Gruppenspannungen erörtert haben, handelte es sich in dem einen Fall um rein gesellschaftliche, in dem anderen um rein psychologische Tatbestände. Wir werden es im folgenden mit einem Phänomen zu tun haben, in dem gesellschaftliche Voraussetzungen bestimmte psychologische Wirkungen erzeugen, einem Phänomen also, das beiden Gebieten zugleich angehört oder auf der Grenze zwischen ihnen liegt. Die Frage, wie weit Soziologie und Psychologie einander zu befruchten vermögen, ist noch weitgehend ungeklärt. Es besteht zwar ein verbreiteter Wunsch nach Zusammenarbeit in beiden Disziplinen, aber es liegen bisher nur wenige geglückte Versuche vor, den methodischen Weg zu einer solchen gegenseitigen Ergänzung zu bahnen. Selbst ein so verdienstvolles Symposion wie das dem Problem gewidmete Sonderheft des American Journal of Sociology 69legt eher Zeugnis ab für die Ungeklärtheit der Frage, ja für das Widerstreben, seine Forschungsmethoden durch Prinzipien durchkreuzen zu lassen, die der eigenen Disziplin fremd sind, als für das rückhaltlose Streben nach einer Unterstützung von „außen“ her. Insbesondere sind Psychologen nur selten geneigt, ihr ausschließlich auf die Diagnose des Einzelfalles gerichtetes Interesse durch soziale Verallgemeinerungen zu beschweren. Eine bemerkenswerte Ausnahme macht Karen Horney 70, die in ihren Arbeiten jenen Faktoren nachgeht, die beim Entstehen von Neurosen auf alle Mitglieder eines Kulturkreises in gleicher Weise wirken. Auch Franz Alexander 71unternimmt einen brauchbaren Vorstoß ins psycho-soziologische Grenzgebiet, wenn er ausführt, daß ungeachtet aller individuellen Sonderheiten eine bestimmte gesellschaftliche Situation, wie etwa die gemeinsame Situation aller Arbeitgeber, aller Arbeitnehmer oder aller Bauern bestimmte gemeinsame Züge in allen Angehörigen der entsprechenden Schicht entstehen läßt. In ähnlicher Weise unterscheidet Erich Fromm 72zwischen „individuellem“ und „sozialem Charakter“. „Der soziale Charakter“, erklärt er, „umfaßt nur eine Auswahl von Zügen, nämlich diejenigen, die den meisten Mitgliedern einer Gruppe gemeinsam sind und die sich aufgrund der gemeinsamen Erlebnisse und der gemeinsamen Lebensweise dieser Gruppe entwickelt haben.“
Wir übernehmen den Begriff dieses „Gesellschaftscharakters“ unter ausdrücklicher Ablehnung der Erweiterung, die Fromm ihm später zuteilwerden läßt. Dort nämlich sagt Fromm: „Deckt sich der Individualcharakter einigermaßen mit dem Gesellschaftscharakter, so wird der Betreffende durch die in seiner Persönlichkeit überwiegenden Triebe dazu veranlaßt, das zu tun, was unter den besonderen Bedingungen seines Kulturkreises nötig und erwünscht ist.“ Darin liegt aber die unserer Meinung nach falsche Annahme, daß die Züge, die als Folge einer bestimmten Gruppensituation den meisten Mitgliedern der Gruppe gemeinsam sind, zugleich unter den besonderen Bedingungen dieser Gruppensituation auch „nötig und erwünscht“ seien. Das braucht keineswegs der Fall zu sein. Der soziale Charakter der Deutschen, und besonders der deutschen Kleinbürger in der Nachkriegszeit, war entschieden neurotisch, das heißt er zeigte übergroße Erschöpfung und Feindseligkeit. Er neigte infolgedessen zu eben der Haltung, die die Voraussetzung für die Massenwirkung des Nationalsozialismus war. Diese Haltung als „nötig und erwünscht“ zu bezeichnen, dürfte nicht angängig sein. Fromms Fehler liegt darin, daß er „Gesellschaftscharakter“ mit einem positiven Wert versieht, also etwa so viel wie „gesunder Gesellschaftscharakter“ darunter versteht. Gerade der zeitweise Auseinanderfall zwischen dem vom jeweiligen „Gesellschaftscharakter“ bestimmten Verhalten und dem, was unter den gegebenen Verhältnissen „nötig und erwünscht“ ist, zeigt das Vorhandensein einer sozialpsychologischen Krise an.
Überhaupt ist die Unterscheidung zwischen einer generellen und einer individuellen psychischen Sphäre bei Angehörigen einer sozialen Gruppe erst ein Anfang. Sie kann dann zu wertvollen Ergebnissen führen, wenn gezeigt werden kann, in welcher Weise das Verhältnis zwischen genereller und individueller Sphäre nicht nur von Individuum zu Individuum, sondern von Gruppe zu Gruppe, von Epoche zu Epoche und von Kultur zu Kultur sich verändert. Die generelle Sphäre dürfte relativ ausgedehnt sein in konformen Kulturen, und zwar sowohl bei primitiver, wie bei religiöser, wie bei post-rationaler Massen-Konformität; sie wird relativ groß sein in Gruppen, die sich in bedrängter materieller Situation befinden, in „durchschnittlichen“ – im Unterschied zu hochstehenden – Individuen. Sie wird sich – immer auf Kosten der individuellen Sphäre – verbreitern bei starker gefühlsmäßiger Erregung durch allgemeine Erlebnisse, sowie in Zeiten der Not; sie wird wiederum einer individuellen Differenzierung dann Platz machen, wenn ein erhöhter Lebensstandard und die Abwesenheit großer genereller Erschütterungen die freie Gestaltung einer relativ umfangreicheren Lebenssphäre zulassen. In dem gleichen Maße aber, in dem sich die generelle Sphäre zuungunsten der individuellen erweitert, wird die Anwendung gruppenpsychologischer Methoden im Sinne einer Psychologie ihrer typischen Mitglieder fruchtbar werden können. Von ihr zu unterscheiden ist die Psychologie der typischen Veränderungen, denen die Individuen infolge ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe in ihren verschiedenen Erscheinungsformen, wie der Menge, der formlosen oder ad hoc geformten Masse oder der organisierten Vereinigung unterliegen. Wir werden es zunächst nicht mit dieser Gruppenpsychologie im engeren Sinne, sondern mit der Psychologie der typischen Gruppenmitglieder zu tun haben. 73
Nachdem wir die Rolle der individuellen Aggressivität für den Antisemitismus gekennzeichnet hatten, stellten wir die von der menschlichen Zivilisation untrennbaren persönlichen Triebverdrängungen und Unlustgefühle fest und haben nun einen gesellschaftlichen Tatbestand zu betrachten, unter dessen Einfluß diese Unlustgefühle die Neigung haben, in allen betroffenen Individuen sich außerordentlich zu vermehren: wir meinen die Krise.
Eine gesellschaftliche Krise besteht einmal dann, wenn die gesellschaftlichen Beziehungen auf einem oder mehreren Gebieten so aus dem Gleichgewicht geraten sind, daß sie völlig auseinanderzubrechen drohen, sofern es nicht gelingt, sie in einen neuen Gleichgewichtszustand zu überführen. Es wird ferner von einer Krise gesprochen, wenn die Zusammenbruchsgefahr zwar behoben ist, nun aber – so vor allem bei einer Wirtschaftskrise – eine allgemeine Stockung der normalen gesellschaftlichen Funktionen eintritt. Zwar widerspricht es beiden Definitionen nicht – ja es trägt sogar oft dazu bei, die Beseitigung krisenhafter Zustände zu erschweren –, daß einzelne Kreise von einer Krise profitieren; aber es folgt doch aus der schweren Gleichgewichtsstörung, der Kreislaufstockung und dem drohenden Zusammenbruch, daß jede Krise die normalen Lebensschwierigkeiten der Individuen, die von ihr erfaßt werden, erheblich vergrößert. Während die früher erwähnte Aggressivität sich vorwiegend aus der individuellen Situation des Individuums, seiner Familie, seinem persönlichen Lebensschicksal ergibt, gehört die Aggression, die durch die Krise entsteht, der generellen Sphäre an.
Die generelle Sphäre nimmt während der Krise an Bedeutung zu. Sie nimmt zu in jedem einzelnen Individuum, und sie umfaßt außerdem einen größeren Kreis von Individuen.
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