Wer aber einmal in der Stadt lebt, geht nicht wieder aufs Land „zurück“. Eine Rückwanderung würde nämlich der Weg von der Stadt aufs Land in dem Sinne bedeuten, als im Zeitalter des Industrialismus, in das die Zeit der jüdischen Freizügigkeit fällt, eine spontane Massenwanderung nur vom Lande nach der Stadt vorkommt. Die städtische Bevölkerung reproduziert sich nicht und ist auf ständigen Nachzug aus den ländlichen Wohngebieten angewiesen, der ihr nur zu willig zuteil wird. Die Landflucht stellt in fast allen industrialisierten Ländern ein ernstes Problem dar; Stadtflucht aber, wo je sie auftritt, endet als typische Erscheinung im äußersten Falle bereits in den sich mehr und mehr ausweitenden Vorstädten. Es würde gewaltsamer sozialpolitischer Eingriffe bedürfen, um diese natürliche Bewegungsrichtung umzukehren.
Mangels jeglicher Gegenwirkung blieben die Juden Städter und wurden in zunehmendem Maße Großstädter, weil fast alle erwähnten Momente für die Großstädte in noch höherem Maße gelten als für die Klein- und Mittelstädte 51. Zwar nahm mit jeder Generation ihre Fremdheit, ja sogar ihre Andersartigkeit ab und damit ihr Bedürfnis, unterzutauchen. Sie strebten kaum noch nach eigenen Wohnbezirken, sondern im Gegenteil nach einer unterschiedslosen Verteilung über die ganze Stadt. *Das in den ersten Stadien auftretende Bedürfnis nach Freiheit von jeglicher Kontrolle seitens der Gemeinschaft machte einem verstärkten inneren Gleichgewicht Platz. Doch wirkten die Tendenzen der Frühzeit noch lange nach und wurden zeitweise durch den Antisemitismus noch verstärkt. Auch die verbreiterte Berufsbasis umfaßte ausschließlich städtische Berufe. Der traditionelle Erwerbssinn, dem die immer wiederkehrende „Herausforderung“ den „Antrieb“ nicht vorenthielt, suchte die besseren Chancen an den größeren Wirtschafts- Zentren, und schließlich haben auch gewisse, aus Stadtleben und Bildungsniveau herrührende kulturell-ästhetische Bedürfnisse der Juden dazu beigetragen, ihnen die Großstädte immer anziehender erscheinen zu lassen. *
Nun hat aber auch die unersetzbare wirtschaftliche Funktion der Stadt nach dem Zerfall des Feudalismus sie nicht davor bewahren können, zum Angriffsobjekt aller Sozialmoralisten zu werden. Sosehr man gezwungen sein mag, alle ihre Vorteile und Segnungen problematisch zu sehen, und sosehr sich der verantwortliche Sozialpolitiker zu bemühen hat, ihren unleugbaren gesundheitlichen, moralischen und bevölkerungspolitischen Gefahren zu begegnen, so bedeutet es doch eine gefährliche Abkehr von der Wirklichkeit, wenn die städtische Lebensform zugunsten der ländlichen allgemeiner Verurteilung verfällt. Genau diese Fehlauffassung aber charakterisiert fast durchweg die öffentliche Meinung über die relativen Vorzüge von Stadt und Land. In einem gesunden Volk, wie es die Engländer sind, führt diese Auffassung zu gesunden Reaktionen wie dem Countryhouse der besitzenden und der Gartenkultur der mittleren und kleinbürgerlichen Schichten. Im außergewöhnlich rasch industrialisierten Deutschland aber, das sich mit den Folgen der Industrialisierung nie ganz abfinden konnte, ist die Sehnsucht nach der verlorenen Naturnähe zu einem der bestimmenden Züge eines so weitverbreiteten, urdeutschen Lebensgefühls wie der Romantik geworden. Man muß nicht gleich von den „schmutzigen Menschenfluten der Weltstädte“, von dem „glühenden, unfruchtbaren Asphalt einer bestialisierten Unmenschheit 52“ lesen und begegnet doch der Verurteilung der Stadt und der Sehnsucht nach dem Lande in populären sozialpolitischen Schriften, in Literatur und öffentlicher Meinung immer wieder. Auch eine so charakteristisch deutsche Erscheinung wie die Jugendbewegung vor und nach dem ersten Weltkrieg war von diesen Gefühlen getragen. Aber schließlich war es eine allen industrialisierten Ländern gemeinsame Erscheinung, daß man das Landleben mit allen Attributen paradiesischer Reinheit ausstattete und in der Stadt zwar lebte, aber in ihr das Prinzip des Bösen schlechthin sah. Und wiederum finden wir die Juden ausschließlich in jenem Lebensbezirk, dem der negative Wertakzent anhaftet.
Die Verstädterung der Juden war einer der wesentlichen Gründe, die ihrer wirtschaftlichen und wohnortsmäßigen Normalisierung entgegenwirkten. Innerhalb der Städte bestand kein zwingender Anlaß, der sie in ihrer traditionellen Bevorzugung der händlerischen Berufe hätte irremachen können. Zunehmend gewann der Handel an Bedeutung und eröffnete beträchtliche Aufstiegschancen. Dank ihrer Erfahrungen und des Fehlens aller vor- und antikapitalistischen Vorurteile machten die Juden davon ausgiebigen Gebrauch. Die Aufstiegslinien vom Trödel – und Hausierhandel sowie vom kleinen Konsumkredit waren klar vorgezeichnet. Sie führten zum Ladengeschäft, zum Kauf- und Warenhaus, zum Großhandel, zur Bank, zur Börse und zu den vielen Vermittlungstätigkeiten jeder Stufe, wie sie etwa der Warenvertreter, der Grundstücksmakler, der Versicherungsagent repräsentieren. Es gibt innerhalb der Handelssphäre wohl keinen Beruf, den die Juden nicht ergriffen hätten.
Anders war es in der Industrie, die ebenfalls einen Teil der wirtschaftlich auf steigenden Juden auf nahm. Hier fand die jüdische Infiltration im wesentlichen in dreifacher Form statt, aber nur eine dieser Formen war einer Normalisierung günstig.
Zunächst entwickelten die Juden die von ihnen schon vor der Industrialisierung betriebenen Handwerke 53. Dies führte zu einer starken Bevorzugung der Bekleidungsindustrie im weitesten Sinne, zu der die Juden vom Schneiderhandwerk her, das sie in großem Umfange betrieben, Zugang fanden. *Ruppin 54, der in der Definition sogenannter „jüdischer Industrien“ sehr genau ist, weil es ihm nicht wie uns hier auf eine überproportionale jüdische Beteiligung, sondern darauf ankommt, daß „die ganze Industrie vom Besitzer bis zum Arbeiter ausschließlich oder vorzugsweise mit Juden besetzt ist“, – Ruppin läßt als „jüdische Industrien“ nur drei gelten, von denen zwei territoriale Unterabteilungen der Bekleidungsindustrie darstellen: die Textilindustrie in Polen und die Herstellung fertiger Kleidung und Wäsche in Paris, London und den Vereinigten Staaten 55. Für unsere Zwecke ist die Feststellung statthaft, daß die Textil- und Bekleidungsindustrien mit allen ihren Abarten bis zur Lederverarbeitung, Kürschnerei, Mützenmacherei, Knopfmacherei in sämtlichen sich vorwiegend aus aschkenasischen Juden rekrutierenden Judenheiten einen außerordentlichen Prozentsatz der in der Industrie tätigen Juden aufnehmen. Als dritte „jüdische Industrie“ erwähnt Ruppin die Diamantenschleiferei in Amsterdam und Antwerpen, für welche die Juden durch ihre frühere Tätigkeit im Glaserhandwerk sowie durch ihren im Mittelalter betriebenen Handel mit Edelsteinen prädestiniert gewesen seien. Eine gewisse Neigung und Eignung für diesen Industriezweig mag daneben auch in der traditionellen Betätigung von Juden im Bearbeiten edler Metalle begründet liegen 56. Der jüdische Anteil an den genannten Industrien bezieht sich auf Unternehmer, Angestellte und Arbeiter, mit der Maßgabe, daß in Mittel- und Westeuropa der prozentuale Anteil der Unternehmer und Angestellten, in Osteuropa jener der Arbeiter überwog 57. In den Industrien, die sich aus solchen Handwerken entwickelt haben, in denen Juden nicht vertreten waren, wie Eisengießereien und Maschinenfabriken, sind Juden nur selten zu finden 58. Deshalb bleibt auch im Aufstieg die ursprüngliche Schichtung weitgehend erhalten.
Der zweite Weg in die Industrie leitete sich vom Handel und Geldgeschäft ab und bediente sich des dort erworbenen Kapitals zum Zwekke der Gründung oder des Erwerbs von Unternehmungen. Hier gab es keine Beschränkung auf bestimmte Industriezweige 59, so daß kaum einer existiert, in dem Juden nicht vertreten sind. Entsprechend der besonderen Art der Einflußnahme bekleideten die so in die Industrie gelangten Juden vorwiegend leitende Stellungen. Es handelt sich hier um den schon weiter oben erwähnten Weg, der eine Normalisierung begünstigte.
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