Auf einem kleinen Fernseher auf der Anrichte lief eine Sendung des Regionalsenders. Er hörte nur mit halbem Ohr hin, doch plötzlich ließ ihn eine Meldung hochschrecken: Mord in der Elbphilharmonie!
Die Nachricht war nicht besonders lang und enthielt zum Glück auch keine wichtigen Einzelheiten.
Hat ziemlich lange gedauert, bis es durchgesickert ist , dachte er. Immerhin kennen sie den Namen des Opfers nicht, und sie wissen auch nicht, in welcher Position er gefunden wurde.
Wenn es nach ihm ginge, sollte das auch so bleiben. Er widmete sich wieder seinem Kaffee, der seine Lebensgeister geweckt hatte, als das Telefon klingelte.
„Brock“, meldete er sich mürrisch.
„Gut, dass ich Sie noch erreiche“, sprudelte eine Stimme, ein Kollege von der Spurensicherung.
„Sind Sie schon in der Elbklause ?“, unterbrach Brock. „Der Schuppen ist vermutlich ein Tatort.“
„Vermutlich?“, kam es ungläubig durch die Leitung.
„Wir haben es letzte Nacht jedenfalls angenommen.“
„Und dann haben Sie ihn einfach hängen lassen?“
Brock zog die Augenbrauen zusammen. „Wovon sprechen Sie eigentlich?“
„Kommen Sie so schnell wie möglich her“, sagte der Kollege. „Sie sollten Ihren Tatort selber sehen.“
Er murmelte etwas, das verdächtig nach Idiot klang und unterbrach die Verbindung.
Brock trank den Kaffee aus, verspeiste das Ei mit drei Bissen und zog sich in Windeseile an: Jeans, Polohemd, leichte Lederjacke.
Er nahm den eigenen Wagen. Den Weg kannte er schließlich. Er hatte Glück, der Ring zwei war nicht so voll wie erwartet.
Er parkte auf dem Stellplatz der Elbklause und eilte zum Schuppen. Vor der Tür erwartete ihn ein Beamter der Spurensicherung, gekleidet in einen weißen Anzug, Plastikbezüge über den Schuhen.
Er streckte Brock einen ebensolchen Anzug entgegen. „Das sollten Sie erst mal anziehen, bevor wir reingehen.“
„Haben wir eben telefoniert?“, erkundigte sich Brock.
Der Mann nickte. „Inzwischen habe ich mir zusammengereimt, was hier passiert ist. Denn Ihre Reaktion fand ich etwas ungewöhnlich.“
„Dann klären Sie mich mal auf.“
Der Kollege hielt ihm dir Tür auf, nachdem Brock sich die Schutzkleidung übergestreift hatte.
„War das Siegel unbeschädigt?“
Der Beamte schüttelte den Kopf. „Nein.“
Im Inneren des Gebäudes gingen mehrere ebenso weiß gekleidete Beamte ihrer Arbeit nach. Zwei lichtstarke Scheinwerfer auf Stativen erhellten den großen Raum. In ihrem Fokus hing Dieter Schmitz in merkwürdig verdrehter Haltung von dem zentralen Mittelbalken, der das Dach stützte.
Sein Kopf war zur Seite geneigt, die Augen aufgerissen und blutunterlaufen. Das Gesicht schien schmerzverzerrt. Er hing zwei Schritte schräg hinter der Werkbank. Unter ihm lag ein umgestürzter Schemel, als hätte er sich selbst erhängt.
„Der Selbstmord ist ziemlich dilettantisch vorgetäuscht“, bemerkte der Beamte der Spurensicherung dazu. „An den Gelenken kann man noch die Spuren einer Fesselung erkennen. Die Höhe passt mit dem Schemel nicht zusammen, und überdies hat das Opfer einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen.“
Er winkte einen seiner Kollegen heran, der einen Plastikbeutel aus einem Karton zog und ihn zu Brock brachte. Der Beutel enthielt ein kurzes Eisenrohr, an dem noch Blut und Haare klebten.
„Die Waffe“, erklärte der Mann der Spurensicherung überflüssigerweise.
„Das Ding muss sofort in die Gerichtsmedizin. Es könnte sein, dass es auch bei dem Toten in der Elbphilharmonie verwendet wurde.“
„Ich nehme mal an, als Sie gestern Abend gingen, erfreute sich dieser Mann noch bester Gesundheit.“
„Allerdings!“
Sie drehten beide die Köpfe, als die Tür aufgerissen wurde, und Dr. Bernd Fischer in der Öffnung erschien. Er war bereits in seinen Schutzanzug verpackt und wirkte außer Atem. Mit raschen Schritten hatte er den Raum durchmessen und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Erhängten.
„Einen schönen guten Morgen, Doktor“, begrüßte ihn Cornelius Brock.
Der Pathologe löste seinen Blick von der Leiche. „Wenn ich Sie sehe, ist es immer mit Arbeit verbunden. Ihnen allen ebenfalls einen guten Morgen.“
Er betrachtete zweifelnd den Toten. „Das gut nehme ich zurück.“
Brock senkte seinen Blick auf Fischers Schuhe. „Haben wir heute keinen Golftermin?“
„Nur einmal in der Woche“, knurrte der Arzt. „Mehr ist ja bei diesem Job nicht drin!“
Er umkreiste den Erhängten langsam und nahm die Einzelheiten dabei auf. „Der Mann hat sich nicht selbst erhängt“, stellte er schließlich fest. „Und einer allein hat ihn dort auch nicht hinaufgezogen. Der Tote wiegt mindestens neunzig Kilo. Um dieses Gewicht hochzuhieven, waren mindestens zwei Personen nötig. Ich sehe Fesselungsspuren und eine Platzwunde am Kopf. Das verwendete Seil kommt mir übrigens bekannt vor. Der Tote in der Elbphilharmonie war mit ziemlich identischen Stricken gefesselt.“
„Ähnliche Schlüsse haben wir auch schon gezogen“, sagte der Mann von der Spurensicherung. „Können wir ihn jetzt herunterlassen?“
Der Pathologe nickte. „Ich werde ihn mir gleich heute Nachmittag ansehen.“
Er wandte sich an Brock. „Besuchen Sie mich doch heute noch. Ich habe ein paar Erkenntnisse zu Markus Holler, die ich Ihnen gern mitteilen möchte. Ich bin den ganzen Tag in der Gerichtsmedizin.“
„Gern. Diesen Tatort kann ich jetzt beruhigt Ihnen überlassen.“
Brock verabschiedete sich mit einem Kopfnicken. Er konnte sich darauf verlassen, dass die Kollegen der Spurensicherung sehr gründlich vorgehen würden. Einige Schlüsse hatte er bereits selbst gezogen.
Dieter Schmitz wäre ein wichtiger Zeuge gewesen. Auch wenn er den Mord an Markus Holler nicht direkt gesehen hatte, so hätte seine Aussage doch gereicht, um die beiden Russen in Gewahrsam zu nehmen. Er hatte keinen Zweifel daran, dass sie auch für diesen Mord verantwortlich waren.
Nur eines ließ ihn unentwegt grübeln: Was war ihr Motiv? Aus welchem Grund hatten sie die beiden Männer ermordet?
Sein Smartphone vibrierte. Eine Nachricht war eingegangen. Ein Kollege von der IT-Abteilung bat dringend um seinen Besuch, da er etwas Wichtiges entdeckt hätte.
*
In die Räume der Computerspezialisten verirrte sich Hauptkommissar Brock eher selten. Er hatte sich zwar ausreichende Kenntnisse angeeignet, um seinen Computer zu bedienen, doch ihm war es lieber, mit den Menschen direkt zu kommunizieren. Er hatte wenig Verständnis für die jungen Leute, denen ihr Smartphone zu einer Verlängerung der Hand geworden war und das nur zum ständigen Austausch von Banalitäten diente. Manchmal fragte er sich, ob sie wussten, dass man mit einem solchen Gerät auch einfach nur telefonieren konnte.
Er studierte die Türschilder, bis er die richtige Tür erreicht hatte. Sie war weit geöffnet. Er sah einen großen Raum, vollgestellt mit Schreibtischen, Regalen, Wandschränken und zahlreichen elektronischen Geräten. Am auffälligsten waren die großen Monitore, die teilweise übereinander an den Arbeitsplätzen gestapelt waren.
Mehrere meist junge Beamte starrten auf die Bildschirme oder hämmerten auf ihre Tastaturen.
Einer von ihnen – schon etwas älter, sorgfältig frisiert, gebügeltes Uniformhemd, offenes Gesicht – winkte ihn zu sich heran. „Hauptkommissar Brock?“
„Der bin ich.“ Brock sah auf den Schulterstücken des Mannes einen einzelnen silbernen Stern blinken. „Sie müssen Kommissar Höhne sein.“
„Ganz richtig.“ Er deutete auf einen Drehstuhl. „Nehmen Sie Platz.“
Brock setzte sich und blickte auf den Monitor. Er sah ein eingefrorenes Bild, das er gut kannte: Hollers Jacht, die im letzten Jahr beim Hafengeburtstag ein kleines Boot gerammt und versenkt hatte. Ein Unfall, der seines Erachtens kein Unfall gewesen war.
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