Fragen nach ihrer Herkunft liess Marlene nicht zu. Wie die Fee im Märchen hatte sie ihm gleich zu Beginn ihrer Beziehung die Spielregeln klargemacht: Keine Fragen zur Vergangenheit. «Vielleicht bin ich als Elfe aus einer Rose geschlüpft? Ich lebte dreihundert Jahre lang, bevor ich dich sah. Dann war ich verloren. Ich wurde ein Mensch, um dich lieben zu können.» Keine Fragen, woher ihr Vermögen stammte. «Vielleicht war ich Meerjungfrau im Pazifik? Ein reicher Mann verzweifelte, weil ich ihn nicht lieben konnte. Er stürzte sich mit seinem ganzen Vermögen ins Meer. Dadurch wurde der Fluch gebannt, ich wurde erlöst und stieg an Land. Ich erblickte dich und entdeckte den Sinn meines Lebens.» Keine Fragen zu ihrer Familie. «Vielleicht lebte ich auf der Strasse und verzauberte als junges Mädchen einen Prinzen aus Saudi-Arabien? Er nahm mich in seinen Harem auf und schmückte mich mit Gold und Edelsteinen. Als er alt war, schenkte er mir die Freiheit und gab mir die Aufgabe, den besten Mann, der neben ihm auf der Erde wandelt, glücklich zu machen. Das ist mir gelungen.»
Marlene war nicht von dieser Welt. Immer hatte er die leise Furcht verspürt, sie könnte so plötzlich verschwinden, wie sie vor fünfzehn Jahren aufgetaucht war. Er wurde überwältigt von der Angst, Marlene sei als zauberhafter Vogel weitergezogen in ein neues Dasein.
Erst als ihm Wasser aus den Haaren über die Stirn lief, bemerkte er, dass der Regen zugenommen hatte und er bis auf die Haut durchnässt am Boden sass. Mühselig rappelte er sich auf und schleppte sich ins Haus zurück. Blanka empfing ihn mit ernstem Blick. In der einen Hand hielt sie ein Frottiertuch für ihn bereit, in der anderen einen grossen lilafarbenen Umschlag. In Marlenes schwungvoller Handschrift stand sein Name darauf.
Marlene übte sich in Gelassenheit. Nicht aufregen, nicht kontern, nicht die Beherrschung verlieren. Am besten wäre es, nicht zuzuhören, aber das war nicht so einfach. Von Zeit zu Zeit warf die andere eine Frage ein. Sollte sie darauf keine Antwort wissen, ging das Gejammer mit erhöhter Frequenz von vorne los.
«Du hast es gut», sagte Roos zum gefühlten hundertsten Mal. «Du hast ein tolles Haus, einen Mann, der dich anbetet, zwei schöne Pferde. Was möchtest du mehr?»
Zum Beispiel meine Ruhe, dachte Marlene. Dass du aus meinem Leben verschwindest. Nie wieder etwas von dir zu hören, das wünsche ich mir sehnlichst. Sie hatten einen Spaziergang gemacht und sassen nun auf einer Bank. Der Schnee hatte sich bis zu den Bergspitzen zurückgezogen, das Grün setzte sich auf den Wiesen allmählich durch, rundum wuchs und blühte alles. Sie hatte im Schams ihr Paradies gefunden, sie fühlte sich im von hohen Bergen umgebenen Talkessel geborgen wie ein kleiner Schwan unter dem Flügel seiner Mutter. Ihr Glück wäre vollkommen, dachte Marlene frustriert, wenn Roos von einem Traktor überfahren, in der Rofflaschlucht den Wasserfall hinunterstürzen, im nahen Steinbruch von einem Granitbrocken erschlagen, auf welche Art auch immer vom Teufel geholt würde. «Was ist mit …» Wie hiess er doch gleich?
«Alex?», kam ihr Roos zu Hilfe. «Alex hielt nicht, was er versprach. Ich habe alles für ihn getan. Alles. Er hat es nicht gewürdigt. Ich kann nicht mit einem Mann zusammenleben, der nicht schätzt, was er an mir hat. Er …»
Marlene kannte die Fortsetzung, sie brauchte nicht weiter zuzuhören. Der Text war nach dem Abgang von Alex derselbe wie zuvor bei Hans, Gabriel, Mike und wie sie alle geheissen hatten. Ohnehin zweifelte sie daran, dass auch nur ein einziger von ihnen je existiert hatte.
«… über den Sommer wieder nach Kroatien …»
Marlene horchte auf.
«Das Klima tut mir gut. Natürlich wäre die Côte d’Azur die bessere Wahl, die Leute in Frankreich sind so nett, und die französische Küche bekommt mir besser. Aber Frankreich ist teuer. Bescheidenheit ist eine Tugend, sagt man. Ich werde häufig selbst kochen in Kroatien, ich kann es mir nicht leisten, immer auswärts zu essen.»
Vielleicht wird sie in Kroatien von einem Hai gefressen, dachte Marlene.
«Eigentlich kann ich mir den Aufenthalt in Kroatien trotzdem kaum leisten.»
Oder von einem Geldtransporter platt gedrückt.
«Das Leben ist so teuer geworden, ich komme kaum über die Runden.»
Oder von einer Fähre gerammt.
«Für das Billett nach Andeer habe ich das Geld nehmen müssen, das ich für Sandalen beiseitegelegt hatte.»
Oder von einem Tintenfisch in die Tiefe gezogen.
«Es fällt mir so unsagbar schwer, dich darum bitten zu müssen», seufzte Roos.
«Komm, gehen wir zurück.» Marlene erhob sich von der Bank. Keine Minute länger würde sie es aushalten, neben der anderen zu sitzen. Jetzt, da das Thema angeschnitten war, bestand die Hoffnung, dass sich der Besuch seinem Ende näherte.
«Bitte geh nicht so schnell!» Roos keuchte.
Marlene verlangsamte ihre Schritte. In spätestens zwei Stunden musste Roos das Postauto zum Tal hinausnehmen. Sie begann, die Minuten zu zählen.
Ursin und Frederik gingen morgens bei leichtem Nieselregen, der rasch stärker wurde, zur Schule. Da die Tagundnachtgleiche nicht mehr weit war, brachte der Regen eine empfindliche Abkühlung mit sich. Das unfreundliche Wetter hielt sie davon ab, nach der Schule erneut nach Gold zu suchen. Es hinderte sie sogar daran, ans andere Ende des Dorfs zu laufen und dem Mittelsmädchen ihr Anliegen zu schildern. Sie schoben die Bestellung der Goldwaschrinne und der Waschpfanne auf und rührten den gefundenen Rucksack nicht an, der immer noch unter dem Dach im Stall lag.
Nicht nur die Buben zogen sich in die angenehme Wärme ihres Zuhauses zurück. Kaum jemand ging bei diesem Wetter freiwillig nach draussen. Auch die Hundehalterinnen und -halter verzichteten auf ausgedehnte Runden. Stattdessen zogen sie die Kapuzen tief in die Stirn, trieben ihre Vierbeiner zur Eile an und stemmten sich so kurz wie möglich gegen den Wind.
Ein einziger einsamer Fussgänger benutzte an diesem Donnerstag die schmucklose Hängebrücke, die einige hundert Meter vor dem südlichen Dorfeingang den Hinterrhein überquerte. Er war so beschäftigt mit der Frage, wie er seiner Frau erklären sollte, wo das Geld geblieben war, das sie für den Kauf neuer Vorhänge beiseitegelegt hatte, dass er weder nach rechts noch nach links schaute. Auch nicht hinunter ins Flussbett des Hinterrheins.
Massimiliano hatte den Brief im lila Umschlag zunächst nicht geöffnet. Er hatte sich auf das Sofa in der Eingangshalle sinken lassen und sich nicht wieder daraus erhoben. Blanka hatte ihm trockene Kleider und eine Suppe gebracht, die inzwischen erkaltet auf dem kleinen Tischchen neben der Armlehne stand. Er befand sich im freien Fall in die tiefste Schwärze, die er je empfunden hatte. Marlenes Worte im Brief bestätigten seine schlimmsten Ahnungen. «Mein Geliebter», stand da. Der Schmerz war durch seinen Körper gefahren, die Worte vor seinen Augen verschwommen. «Vielleicht bin ich eine verirrte Seele, für die der Zeitpunkt gekommen ist, weiterzugehen. Die an einen anderen Ort getrieben wird und in einer anderen Gestalt einen neuen Anfang machen muss.» Erst viel später hatte er die Kraft gefunden, den Brief zu Ende zu lesen. «Die Erde ist rund, damit alle Wege wieder zum Anfang führen», lautete der letzte Satz. Massimiliano verstand ihn so, dass sie ihn verliess, um zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Ihm erschloss sich nicht, dass der rätselhafte Text genauso gut die Möglichkeit eines Wiedersehens andeuten könnte. Zu tief unten befand er sich bereits in seiner Verzweiflung.
Als es dunkel wurde, brachte ihm Blanka eine Tasse Tee und einige belegte Brote. Auch diese rührte er nicht an.
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