Die ganze Clique wollte Sandra Falkenberg tags darauf besuchen, aber das durfte man ihr noch nicht zumuten. Dr. Krautmann erklärte den jungen Leuten – Julian und Lisa waren auch dafür, dass die Patientin im Augenblick noch nicht besonders belastbar sei. „Deshalb kann ich nur eine Person bewilligen“, sagte er, und die Clique delegierte vernünftigerweise Oliver Wiechert.
„Wir warten hier auf dich“, sagte Karsten Rüge. „Bestell ihr herzliche Grüße von uns.“
Oliver nickte nur.
„Lass dir Zeit“, sagte Dorothee Simonis. „Bleib so lange bei ihr, wie es geht.“
Seit Sandras Absturz war Dotty wie ausgewechselt. Sie war sehr mild und versöhnlich gestimmt, und es hatte den Anschein, als fühlte sie sich an dem Unglück mitschuldig. Olivers Herz klopfte heftig, als er die Tür öffnete, die in Sandras Krankenzimmer führte. Ihm war, als würde eine unsichtbare Hand seine Kehle zudrücken.
Er war so leise, dass Sandra ihn nicht eintreten hörte. Sie hatte die Augen geschlossen, schien zu schlafen. Aufwecken werde ich sie auf keinen Fall , dachte Oliver. Wenn sie schläft, lasse ich sie schlafen und sehe sie nur an. Er erreichte ihr Bett und musste den Wunsch unterdrücken, sich über sie zu beugen und zu küssen. Ihr hübsches Gesicht war blass, aber ihren entspannten Zügen war nicht anzusehen, welches schreckliche Schicksal sie ereilt hatte.
Olivers Nerven vibrierten. Es schmerzte ihn zutiefst, Sandra so daliegen zu sehen, und ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust, auf die ein unsichtbares Gewicht von mehreren Zentnern drückte. Sandra hörte sein Seufzen und öffnete die Augen.
„Hallo“, sagte er zaghaft.
„Oliver …“, hauchte sie.
„Wie geht’s?“, wollte er wissen.
Sie schwieg.
„Hast du Schmerzen?“
„Sie geben mir etwas dagegen“, antwortete sie leise.
„Ich soll dich von der gesamten Clique ganz herzlich grüßen. Sie sind alle draußen, aber Dr. Krautmann bewilligte nur einen Besucher, und alle meinten, das müsse ich sein.“
Tränen rannen ihr übers Gesicht.
„Nicht weinen, Liebes“, bat Oliver zärtlich. „Nicht weinen, es wird alles gut.“
„Ich bin so wahnsinnig unglücklich“, schluchzte Sandra.
„Du lebst.“
„Aber wie. Ich werde nie wieder gehen können.“ Sie schloss die Augen und verzog verzweifelt das Gesicht. „Wenn ich könnte, würde ich aus dem Fenster springen.“
Oliver sah sie erschrocken an. „Das darfst du nicht sagen.“
„Was soll ich denn noch auf dieser Welt?“
„Warum denkst du immer nur an dich, warum nicht auch mal an mich?“, fragte Oliver ein wenig vorwurfsvoll.
„Es wäre auch für dich besser, wenn ich nicht mehr leben würde.“
„Sandra, ich bitte dich, hör auf, so zu reden, das tut mir weh.“
„Ich bin doch nur noch eine Last für dich“, seufzte sie.
„Ich liebe dich.“
„Ich bin zur Hälfte tot. Mein Unterleib ist völlig gefühllos.“
„Die Ärzte bringen dich wieder hin“, sagte Oliver zuversichtlich. „Du bist in einer der besten Kliniken unseres Landes, das weißt du doch.“
„Ich muss für meine Dummheit und meinen Leichtsinn bezahlen.“
„Du wirst eines Tages wieder gehen können, Sandra.“
„Nein, Oliver, das kannst du vergessen. Ich werde meine Beine nie mehr gebrauchen können. Damit ist es ein für alle Mal vorbei. Wenn die Ärzte jedem Querschnittgelähmten helfen könnten, gäbe es nicht so viele davon.“
„Jeder Fall liegt anders“, entgegnete der junge Mann mit ungebrochenem Optimismus.
„Sie haben wahrscheinlich alle einmal gehofft und den Himmel verzweifelt um Hilfe angefleht – und was ist ihnen letzten Endes geblieben? Enttäuschung, Resignation und Tränen.“
„Manchmal lässt der Himmel ein Wunder geschehen.“
„Ein Wunder“, sagte Sandra bitter. „Ich glaube nicht an Wunder.“
Oliver lächelte. „Ob du an sie glaubst oder nicht – es gibt sie.“
„Nicht für mich.“
„Auch für dich“, widersprach er und streichelte zärtlich ihre Hand.
„Wie geht es ihr? Hast du mit ihr gesprochen? Wie fühlt sie sich? Ist sie guter Dinge? Was hat sie gesagt?“ Die Fragen prasselten nur so auf Oliver Wiechert nieder, als er zur Clique zurückkehrte. Dr. Krautmann befand sich nicht mehr bei den jungen Leuten.
„Sie lässt euch auch alle herzlich grüßen“, sagte Oliver heiser, „und es freut sie, dass ihr alle so sehr Anteil nehmt an ihrem Schicksal.“
„Wie sieht sie aus?“, wollte Eva wissen.
„Blass“, antwortete Oliver.
„Wir hätten etwas für sie kaufen sollen.“ Mit dieser Bemerkung verblüffte Johannes Brauneis, der Pfennigfuchser, alle. Wenn er freiwillig für jemanden Geld auszugeben bereit war, dann musste er ihn schon sehr mögen.
„Wie hat sie den Eingriff überstanden?“, erkundigte sich Dotty.
„Sie ist sehr schwach“, sagte Oliver.
„Spürt sie ihre Beine wieder?“, wollte Karsten Rüge wissen.
Oliver hob seufzend die Schultern. „Leider nein.“
„Das Gefühl wird sich wieder einstellen.“ Karsten nickte zuversichtlich. „Sie ist ein tapferes, zähes Mädchen. Sie kann kämpfen, und sie wird kämpfen.“
Lisa und Julian Krautmann stellten keine Fragen. Wenn sie etwas wissen wollten, brauchten sie sich nicht an Oliver Wiechert zu halten, sondern konnten ihre Information aus erster, kompetenter Hand beziehen.
Vor allem Lisa hatte Sandras Absturz sehr mitgenommen. Schuldgefühle plagten sie. Sie quälte sich mit dem Vorwurf, nicht genug auf die Freundin eingewirkt zu haben.
Sie hatte mit ihr zwar gesprochen, es war ihr aber nicht gelungen, sie davon abzubringen, permanent Kopf und Kragen zu riskieren.
Lisa wusste nicht, wie sie es hätte anstellen sollen, dass Sandra Falkenberg auf sie hörte. Sie wusste lediglich, dass es ihr hätte gelingen müssen. Du warst nicht beharrlich genug , warf eine innere Stimme ihr vor. Hast den Ernst der Lage unterschätzt und dir zu viel Zeit gelassen, und nun wird Sandra vielleicht nie mehr gehen können.
Nie mehr wollte ihr Vater nicht hören. „Sie hat noch eine Chance“, hatte Florian Krautmann heute Morgen gesagt. „Aber nur, wenn sie tatkräftig mithilft. Es ist in sehr vielen Fällen so: Nur wenn der Patient auch gesund werden will, können wir Ärzte ihm helfen.“
Drei Wochen nach ihrem Absturz wurde Sandra entlassen. Ihre Großmutter hatte einen Rollstuhl für sie besorgt. Diesen schob Oliver Wiechert aus der Wiesenhain-Klinik.
Sandra war sehr ernst geworden, sie hatte das Lachen verlernt. Nicht einmal lächeln konnte sie mehr. Sie fühlte sich lebendig begraben, und sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es irgendeinen Arzt auf der Welt gab, der ihre motorischen und sensiblen Lähmungen der Nervenstränge und -zellen noch mal beheben konnte.
Jeder, der mit ihr sprach, versuchte ihr Mut zu machen und sprühte vor Optimismus, doch keiner von ihnen spürte wie sie, dass ihr Körper für sie zum ausbruchssicheren Gefängnis geworden war, deshalb konnte auch niemand ihre Seelenpein nachvollziehen.
Es war leicht, zu sagen: „Nur Mut. Lass den Kopf nicht hängen. Das wird schon wieder.“ Aber es war unvergleichlich schwieriger, daran zu glauben, dass das Unmögliche auch wirklich wahr werden würde.
Oliver nahm sich einen ganzen Monat frei, um so viel wie möglich bei Sandra sein zu können. Er schob sie im Rollstuhl durchs Haus, hinaus in den Garten oder überall sonst hin, wenn sie es wollte. Sie brauchte nur ein Wort zu sagen.
Eines Abends sah sie ihn traurig an. „Du tust so viel für mich.“
Er winkte lächelnd ab. „Darüber brauchen wir kein Wort zu verlieren.“
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