Ganz anders die Entwicklung des Traumverständnisses in der Romantik, wo in zahlreichen literarischen Fassungen der Traum als Zugang zu einer transzendenten Ebene erlebt wird. Betont die Aufklärung – in moderner psychologischer Terminologie – das Ich-Bewusstsein und muss den Traumzustand daher als Bedrohung ansehen, ist in der Romantik gerade die Auflösung des Ichs in der geistigen Sphäre und sein Aufgehen im Ganzen Ziel eines inneren seelischen Entwicklungsprozesses. Besonders deutlich wird dies in Novalis’ 17. Blütenfragment formuliert:
»(…) Wir träumen von Reisen durch das Weltall – Ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht – Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten – die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt – (…) Aber wie ganz anders wird es uns dünken – wenn diese Verfinsterung vorbei, und der Schattenkörper hinweggerückt ist – Wir werden mehr genießen als je, denn unser Geist hat entbehrt.« (Novalis, 1984, S. 8).
Für die Entgrenzung des Ichs und seine Aufhebung besitzt der Traum in der Romantik geradezu modellhaften Charakter. So ist der Traum »für den romantischen Roman kein zweckgerichtetes Stimmungselement, sondern ein poetisches Modell« (Alt, 2011, S. 243). Der Traum wird zum narrativen Vorbild der romantischen Erzählung vom Eingehen des Subjekts in die Ordnung der Natur, gerät zugleich aber zum Ausdruck der Gegensatzspannung zwischen Individualität und Teilhabe am Ganzen: »Obwohl der Traum stets ein Merkmal von Individualitätserfahrung ist, bildet er daneben das Element einer allgemeinen ›Naturseelenentwicklung‹ (…)« (Alt, 2011, S. 252).
Mit diesem Primat des subjektiven Faktors der Welt im Inneren im Gegensatz zum aufgeklärten Paradigma der Objektivität als Erkenntniszugang zur Welt im Außen erschließt sich über die Romantik und ihre Rezeption in der Medizin und Philosophie des 19. Jahrhunderts auch der Weg hin zu einer Konzeption des Unbewussten.
Als wichtiger Wegbereiter Mitte des 19. Jahrhunderts kann hier exemplarisch Carl Gustav Carus (1789–1869) genannt werden. Als Arzt, Maler und Naturphilosoph gilt er als einer der letzten Universalgelehrten und entwickelt eine eigene Psychologie und Traumtheorie, die ihn als »Testamentsvollstrecker der romantischen Philosophie« (Alt, 2011, S. 273) erscheinen lassen. Auf sein 1846 veröffentlichtes Werk »Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele« geht die Begrifflichkeit des »Unbewußten« zurück, die später in die tiefenpsychologischen Konzeptionen des 20. Jahrhunderts Eingang fand. Er entwickelt darin ein Verständnis von der Seele als Zugang zum Wissen der Natur und kosmischer Erkenntnis. Dies wird vor allem im Zustand des Träumens vermittelt, wenn das Bewusstsein und der Wahrnehmungsapparat der Sinne ausgeschaltet sind und sich eine unbewusste Dimension mitteilt.
1.5 Sigmund Freud – Die Traumdeutung
»Auf den folgenden Blättern werde ich den Nachweis erbringen, daß es eine psychologische Technik gibt, welche gestattet, Träume zu deuten, und daß bei der Anwendung dieses Verfahrens jeder Traum sich als ein sinnvolles Gebilde herausstellt, welches an angebbarer Stelle in das seelische Treiben des Wachens einzureihen ist.« (Freud, 1900/2000, S. 29).
Mit diesem Hinweis auf den Sinngehalt von Träumen beginnt Freud »Die Traumdeutung«, die ihre einzigartige Stellung daraus bezieht, dass sie sich von den traditionellen Sichtweisen sowohl einer Bedeutungslosigkeit der Träume als auch der einer transzendenten Botschaft löst. In sehr vereinfachter Annäherung beruht sein Traumverständnis auf den folgenden Grundzügen: Der Traum ist Ausdruck eines primären Denkens und hat seinen Ursprung im Unbewussten – er funktioniert nach einer symbolhaften Sprache, die wie ein Code entschlüsselt werden kann. Der Grund für diese Verschlüsselung beruht auf der Diskrepanz zwischen unbewusstem, unannehmbar gedachtem Wunsch (Es) und bewusster Haltung des Träumenden (Ich) – in einem Akt der Zensur wird dieser Konflikt im Traum entschärft; als Resultat stellt sich dem sich erinnernden Wachbewusstsein ein manifester Trauminhalt dar, der den latenten Traumgedanken in maskierter Form enthält. Die Deutung des latenten Trauminhalts führt zur Erkenntnis des zugrundeliegenden Wunschs, zu dem erst dann bewusst Stellung bezogen werden kann.
Träume sind demnach beides: Hinweis auf eine dem Bewusstsein nicht unmittelbar zugängliche oder gar kontrollierbare Dynamik und zugleich Diagnostikum für die Bewusstwerdung der wahren, bis dahin jedoch tabuisierten Wünsche des Individuums. Daher bilden Träume die Grundlage für therapeutische Interventionen, sie bieten aber auch Einblick in innerseelische Abläufe und Strukturen und stellen somit den Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Theorie der Psyche dar. Sie werden nun als eigenständige Ausdrucksform des Menschen aufgefasst, die eine eigene Sprache besitzen. Deren Verständnis eröffnet eine neue Dimension der Erkenntnis.
Das revolutionäre Potential dieses Ansatzes ist Freud bewusst; er stellt seine Theorie des Unbewussten in eine Reihe mit den Entdeckungen des heliozentrischen Weltbilds durch Kopernikus und der Evolutionslehre Darwins und bezeichnet sie als die dritte große Kränkung der Menschheit »in ihrer naiven Eigenliebe« (Freud, 1916/2000, S. 283), da das Ich »nun nicht einmal Herr ist im eigenen Haus.« (Freud, 1916/2000, S. 284).
Alt weist darauf hin, dass die alte Streitfrage, ob Freud »die aufklärerische Konstruktion oder die romantische Dekonstruktion des Individuums« (Alt, 2011, S. 328) weiter verfolge, hinfällig sei. Durch die Konzeption eines Unbewussten verliere die ratio ihre Bedeutung als Mittelpunkt. Dies gelte für die Vernunft als Zentrum einer aufklärerischen Haltung, aber genauso für die romantische Gegenbewegung, die darin eine aufzulösende Größe erkenne und die eine Entgrenzung des Ichs zum Ziel habe. Vielmehr stehe die Vernunft nun einem Konstrukt des Unbewussten als eigener Bezugsgröße gegenüber, in der sich ihre Bedeutung für das Individuum relativiere.
Trotz der zahlreichen Spaltungen und nachfolgenden Modifizierungen innerhalb der Psychoanalyse, die sich im Falle C. G. Jungs vor allem an einer auf die Sexualität fokussierten Libidotheorie entzünden (
Kap. I.2.3
), und trotz weiterer berechtigter Einwände, beispielsweise der Beschränkungen durch ein konkretistisches Symbolverständnis in seiner Theorie, eröffnet Freud mit der »Traumdeutung« eine völlig neue Dimension des Traumverständnisses mit einem weit über die therapeutische Anwendung hinausreichenden Einfluss.
Dieser grundlegende Wandel im Verständnis der Träume wird noch einmal auf den Punkt gebracht in Freuds abschließenden Sätzen in »Die Traumdeutung«:
»Zwar entbehrt auch der alte Glaube, daß der Traum uns die Zukunft zeigt, nicht völlig des Gehalts an Wahrheit. Indem uns der Traum einen Wunsch als erfüllt vorstellt, führt er uns allerdings in die Zukunft; aber diese vom Träumer für gegenwärtig genommene Zukunft ist durch den unzerstörbaren Wunsch zum Ebenbild jener Vergangenheit gestaltet.« (Freud, 1900/2000, S. 588)
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