1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 Wann hatte sie das alles bloß geschafft, die Filzstiefel einzutauschen und mir den Mantel herzurichten?
„Mensch, du bist aber eine Schlafmütze!“ Ich fuhr herum und sah meine Freundinnen Lore und Klara.
„Seid ihr etwa durch die Küche gekommen?!“
„Wie denn sonst? Bei euch ist vielleicht was los!“ Lore war begeistert. „Du hast es aber gut“, seufzte sie neidisch.
„Von wegen gut! Ihr habt ’ne ‚Hexe’, wir aber ’nen ‚Hexerich’ bekommen! Tante Njuras Mann ist nämlich zurückgekehrt und will uns jetzt rauswerfen.“
„Wohin geht ihr jetzt?“ Lore sah mich entsetzt an.
„Was weiß ich, vielleicht doch in die Baracken. Mama wollte den Kommandanten fragen.“
Wir schwiegen eine Weile.
„Wollen wir spielen?“ Klara wechselte das Thema.
„Was?“
„Na, zum Beispiel Ausgehen.“ Lore klatschte vor Begeisterung in die Hände, denn es war unser Lieblingsspiel. Wir zogen Kleider, Röcke und Blusen unserer Mütter an, ihre Schuhe mit hohen Absätzen, machten uns Frisuren und tanzten auf imaginären Bällen. Diesmal fiel das Spiel armselig aus. Die schönsten Kleider waren weg, auch Mamas Pelzjacke, um die wir uns immer wieder beim Spiel stritten, hatte sich in Filzstiefel und einen Schal verwandelt.
Entmutigt setzten wir uns ans Fenster und sahen hinaus. Tante Njuras Gäste gingen gerade. Eine Schar singender, johlender und torkelnder Gestalten. Ich ging an die Tür und horchte. In der Küche war es still geworden, nur ein sonderbares Geräusch, als ob jemand Holz sägte, war zu hören. Vorsichtig öffnete ich die Tür und spähte durch den Spalt. Sergej Iwanowitsch lag angezogen auf der Ofenbank und schnarchte mit weit offenem Mund. Hastig zog ich meinen ‚neuen’ Mantel und die Filzstiefel an, alles passte wunderbar und zerrte meine Freundinnen durch die Küche ins Freie.
„Schnell, wir müssen weg, bevor er aufwacht, ich muss noch Reisig aus dem Wald holen, denn wenn meine Mama kommt …“
„Siehst ja aus wie ’ne Vogelscheuche“, Klara musterte mich von oben bis unten mit einem geringschätzigen Blick. Ich war verletzt, aber unerwartet kam mir Lore zu Hilfe:
„Bist ja bloß neidisch, dass wir keine so warmen Sachen haben, Klara. Ich finde, Emmi sieht nicht schlecht aus damit, und außerdem kann man mit diesen Kleidern wunderbar rodeln. Aber mit unserem Zeug“, sie zupfte verächtlich an ihrem dünnen Mäntelchen.
Dankbar für Lores Hilfe versprach ich, ihr meinen Mantel und die Filzstiefel zum Rodeln auszuleihen, und begab mich auf die Suche nach Brennholz.
Werde erst mal ein bisschen älter
Arbeit gab es viel für mich, und es war schwer, sie zu erledigen. Vieles musste ich noch lernen, zum Beispiel, dass es eine Kleinigkeit war, eine Menge Reisig und Trockenholz im Wald zu sammeln, aber ungeheuer schwer, die weite Strecke zum Dorf mit dem Bündel auf dem Rücken durch den tiefen Schnee zurückzulegen. Oder das Wasserholen mit dem Schulterjoch, einer gebogenen, in der Mitte ausgehobelten Holzstange, an deren beiden Enden je ein Eimer an einem Haken angebracht war. Anfangs pendelten die Eimer bei jedem Schritt, das Wasser schwappte über, und seltsamerweise immer nach innen, so dass ich, am Ziel angelangt, insgesamt vielleicht einen halben Eimer Wasser hatte, meine Kleidung aber jedes Mal eine einzige Eiskruste war! Man musste höllisch aufpassen, dass einem nicht Wangen, Füße und Hände erfroren, da es hässliche Wunden gab, die lange nicht heilen wollten. Doch all das war nicht so schlimm, vielmehr die Tatsache, dass man lernen musste, sich den Launen der Erwachsenen ringsum anzupassen. Beschimpfungen, Zornesausbrüchen, Demütigungen und Beleidigungen aus dem Wege zu gehen, wie ich es beispielsweise bei Sergej Iwanowitsch tat, der noch immer darauf bestand, dass die „Faschisten“ aus seinem Haus verschwanden. Das ging leider nicht, denn man hatte vorerst noch keine neue Unterkunft für uns gefunden.
„Wir müssen weg von hier, egal wohin!“ Mama war jetzt noch öfter verzweifelt als früher. „Ich kann das alles nicht mehr ertragen, das geht einfach über meine Kräfte!“
Wie konnte ich bloß helfen? Tagelang zerbrach ich mir darüber den Kopf, bis ich glaubte, eine brauchbare Lösung gefunden zu haben. Ich hatte schon so gut wie alles im Dorf ausgekundschaftet, in alle Scheunen und Ställe einen Blick geworfen und dabei eines Tages ein baufälliges Haus entdeckt. Es war sogar noch ein russischer Ofen drin, nur Fenster und Türen fehlten, und das Dach war an einer Stelle eingestürzt. Aber sonst … Hoffnungsvoll erzählte ich Mama von meiner Entdeckung.
„Bist du denn sicher, dass das Haus niemandem gehört?“ Mama hatte so ihre Zweifel.
„Absolut! Da sollen ganz schlimme Kulaken gewohnt haben, die sind aber vor vielen, vielen Jahren verjagt worden, Gott sei Dank.“
Ich hielt inne, weil mich Mamas entsetzter Blick traf.
„Um Gottes Willen, was redest du da? Weißt du denn überhaupt, wer diese ‚Kulaken’ waren?“
„Ach, Räuber oder Banditen, auf jeden Fall so was Ähnliches, hat Kostja gesagt.“
„So, hat er? Demnach war dein Großvater, der sich sein Leben lang von morgens früh bis abends spät auf dem Feld abrackerte, um es zu etwas zu bringen, ein Räuber und Bandit?!“ Vor lauter Entrüstung konnte sie nicht weitersprechen.
Das konnte ich mir bei dem Gedanken an meinen Opa überhaupt nicht vorstellen, und so beeilte ich mich zu beteuern:
„Der Opa doch nicht! Aber ganz bestimmt war der kein ‚Kulake’!“
„Und ob er einer war, du kleiner Dummkopf! Nun begreif doch, meine Kleine, damals, nach der Revolution in Russland, wurde jeder Bauer, der etwas besaß, zum ‚Kulaken’ erklärt. Ihnen wurde alles weggenommen, und sie selbst wurden dann samt Familie in den Norden verbannt, so wie wir jetzt.“
Sie sah mich eine Weile nachdenklich an:
„Pass auf, Emmi, merk dir für die Zukunft: wenn du etwas hörst und nicht verstehst, kommst du zu mir, und ich werde versuchen, dir alles zu erklären.“
Ich fiel ihr ins Wort:
„Wie war es neulich, als ich dich nach dem russischen Führer gefragt habe? Du bist einfach eingeschlafen!“
Mama zuckte zusammen:
„Das mit den Führern aller Art wollen wir uns lieber für später aufheben, wenn du etwas mehr von der Welt und den Menschen verstehst. Jetzt hat es noch keinen Sinn. Versprich mir, dass du über solche Dinge mit keinem Menschen sprichst, aber wirklich mit keinem! Denn es könnte für uns die schlimmsten Folgen haben. Versprichst du mir das?“
Sie hielt mich fest an den Schultern und sah mir streng in die Augen. Ich versprach es, tat es jedoch nur widerstrebend, denn ich hätte liebend gern gewusst, was denn das für eine „Revolution“ gewesen war. Oder warum man so grausam zu unserem Opa gewesen war. Doch Mama war wieder verstimmt, und die ‚schlimmen Folgen’ waren doch ausschlaggebend, ich hielt brav den Mund.
Die „Weihnachtsverschwörung“ der Verdammten
Weihnachten 1946 fiel traurig aus. Mama hatte mir zwar einen wunderbaren Tannenbaum aus dem Wald mitgebracht, doch konnten wir ihn nur mit der Watte aus den Resten unserer Steppdecke schmücken. Die Kerzen musste unser Docht in der Petroleumflasche ersetzen, und die Geschenke fielen diesmal ganz aus.
Ich war auch früher nicht gerade mit Geschenken überhäuft worden, doch diesmal gab es obendrein nichts zu essen. Mama versuchte, ‚Stille Nacht, Heilige Nacht’ anzustimmen, brach jedoch mitten in der ersten Strophe ab und begann sich hastig anzukleiden.
„Komm, Kind, wir gehen in die Baracken, Pfarrer Seiler hat versprochen, heute eine Weihnachtspredigt zu halten!“
Als wir im Freien waren, empfing uns eine wahre Weihnacht. Das winterliche Dorf überflutete heller Mondschein, die verschneiten Häuser, Bäume und Straßen waren wie verzaubert, und über allem lag eine erhabene Ruhe – wahrlich eine stille, eine heilige Nacht! Wir wagten kaum zu sprechen, nur das Knarren des Schnees bei jedem Schritt durchbrach diese Stille.
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