„Iss es selber, iss nur, Mama, ich habe keinen Hunger“, sagte ich leise, bemüht, meiner Mutter nicht in die Augen zu schauen. Sie sah mich aufmerksam an, als habe sie Verdacht geschöpft.
„Hast du …“, ihre Stimme wurde gefährlich leise, „hast du gebettelt?“ Ich senkte schuldbewusst den Kopf.
„Ich habe dir doch schon oft genug gesagt: Wir sind arm, aber keine Bettler, willst du dir das endlich merken? Versprich, dass du es nie wieder tust!“
„Ja, Mama.“ Es hatte keinen Sinn, sich zu rechtfertigen, das wusste ich. Sie stand auf und begann, ihre nassen Kleider am Ofen aufzuhängen.
„Mein Gott, wie bekomme ich die bloß wieder trocken bis morgen früh um sechs? Der Ofen ist ja schon fast aus.“
Mama lief verzweifelt im Zimmer umher.
„Dafür musst du ab morgen sorgen, ich meine, dass wir immer genug Brennholz haben. Und kochen musst du für uns – ich werde ab jetzt immer erst um diese Zeit nach Hause kommen, in der Nacht. Nun aber werde ich versuchen, bei Tante Njura etwas von unserer Kleidung gegen Kartoffeln und Grütze einzutauschen.“
Ich heulte los. Nicht dass ich Angst vor der Arbeit gehabt hätte, es war nur das erste Mal, dass meine Mama in diesem harten Ton mit mir sprach. Sie nahm mich auch sofort in die Arme und sagte mit bebender Stimme:
„Du musst wissen, mein Kind, in dieser verrückten Zeit ist man eben schon mit acht Jahren erwachsen. Du bist doch mein großes Mädchen, nicht wahr? Wir werden versuchen, zu überleben. Wenn bloß dieses Hungergefühl nicht wäre und die mörderische Arbeit!“
„Was müsst ihr denn arbeiten?“ Ich schmiegte mich an meine Mutter und vergaß alle Ängste.
„Wir müssen …“, begann Mama, „wir fällen Bäume … Aber das ist nichts für Kinder.“
Alle Frauen, Männer gab es so gut wie keine in unserem Transport, wurden jeden Tag in den Wald zum Holzfällen getrieben. Im tiefen Schnee, der manchmal bis zum Gürtel reichte, stapften sie zu den etliche Kilometer entfernten Waldparzellen, fällten Bäume, zersägten sie und schleppten die Hölzer zu einem Stapel am Ufer des nahe gelegenen Flusses: von morgens früh bis in die Nacht hinein, tagaus, tagein, auch an Sonn- und Feiertagen, bei jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit, Jahr für Jahr. Für den Wiederaufbau des zerstörten Landes brauchte die Sowjetunion Erz, Kohle und Holz, viel Holz. Das sollten die Deutschen jetzt liefern, denn schließlich, hieß es damals, waren sie es, die Russland verwüstet hatten. Niemanden interessierte es, dass nicht wir diese Deutschen waren, und die meisten Sowjetbürger wussten es nicht einmal .
An der rauen, strengen Schönheit der Landschaft ringsum, an den dunklen, märchenhaft schönen Wäldern, die das von Gott und der Welt verlassene Dorf der Verbannten umgaben, an dem tiefen, unter der Sonne in hundert Farben glitzernden Schnee konnten diese gemarterten Frauen keinen Gefallen finden, denn ihr Alltag wurde bestimmt von Kälte und Hunger, Krankheit und Tod. Und vielen, unglaublich vielen Demütigungen. Manche Frauen wurden, unerfahren und unbeholfen, von fallenden Bäumen zerquetscht. Oder sie brachen während der Holzflößerei im Eis ein und ertranken unter den Baumstämmen. Viele waren von der ihre Kräfte übersteigenden Arbeit so geschwächt, dass sie an Lungenentzündung, Ruhr, Grippe oder anderen Krankheiten starben. Viele erfroren oder waren ganz einfach irgendwo in Eis und Schnee verschollen. Die meisten starben jedoch an Unterernährung, sie verhungerten. Die Zwangsarbeiterinnen bekamen dreihundert Gramm Brot pro Tag, ein undefinierbares, schwarzes, klebriges Etwas, ein kleines Klümpchen. Wir Kinder bekamen gar nichts, denn wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, sagten die großen Humanisten, als welche sich die Kommunisten schon immer verstanden hatten. Unsere Mütter dachten da anders. Welche Mutter hätte nicht beim Anblick der hungrigen Augen ihres Kindes auf die eigene Brotration verzichtet? Wenn es aber zwei oder gar drei Kinder waren?
Mama schwieg eine Weile und schien zu überlegen. Dann gab sie sich einen Ruck und ging schnell zum Bett, unter dem unser Koffer lag.
„So, dann wollen wir mal sehen, was wir da alles haben“, sagte sie mit gekünstelter Fröhlichkeit und legte Kleider und Bettwäsche zur Seite, einen ganzen Stapel. Ich sah ängstlich ihrem Tun zu: Wollte sie vielleicht alles, was wir noch hatten, weggeben? Als hätte sie meine Gedanken erraten, sagte Mama gelassen:
„Das alles sind Sachen, die man entbehren kann. Wir müssen irgendwie den Winter überleben, doch mit dem, was ich für meine Lebensmittelkarten kriege, kommen wir nicht weit.“
Dann sah sie mich an.
„Wenn es uns wieder besser geht, kaufen wir uns neue Kleider, einverstanden?“ Sie nahm einen Rock, zwei Blusen, ein Kleid, und wir gingen damit in die Küche zu Tante Njura.
Im Licht der Petroleumlampe wurden die Sachen befühlt und begutachtet. Mama und Tante Njura sprachen aufeinander ein, offenbar handelten sie. Dann ging unsere Wirtin in den Flur und kehrte mit zwei Schüsseln zurück. In der einen war Grütze, in der anderen etwas Mehl. Sie stellte alles auf den Tisch und begab sich zum Ofen, wo am Fußboden ein großer gusseiserner Ring angebracht war, der schon längst meine Neugierde erweckt hatte. Ein Loch wurde sichtbar, die Öffnung in den Keller. Ich legte mich an den Rand der Öffnung und schaute hinunter. Ein Wunderland tat sich mir da auf! Jede Menge Kartoffeln, Möhren, Rüben, Weißkohl und Sauerkraut! Tante Njura füllte einen großen Eimer mit Kartoffeln, zögerte einen Augenblick und legte noch ein paar Möhren und einen riesigen Kohlkopf obendrauf. Dann ging der ganze Reichtum in Mamas Besitz über, Tante Njura aber bekam unsere Sachen.
Das Feuer prasselte lustig in unserem Ofen, und die Welt sah nun ganz anders aus. Was für Wunder doch ein paar Kartoffeln und ein bisschen Roggenmehl vollbringen konnten! Mama kochte uns eine Grütze.
Wir hatten zwar kein bisschen Butter oder Fett dazu, aber ansonsten … war es denn nicht ein königliches Mahl?
Beim Abendbrot zählte Mama noch einmal auf, was ich am nächsten Tag alles erledigen sollte. Das Schwierigste war, Holz zu besorgen. Wie sollte ich in meinen Schuhen durch diesen tiefen Schnee in den Wald gehen? Mama lief noch einmal zu Tante Njura und borgte für mich ein Paar Walenki, wie die Filzstiefel hießen, aus.
„Morgen nehme ich meine Pelzjacke mit, die Frau des Kommandanten hat gefragt, ob wir nicht etwas ‚Anständiges’ zum Eintauschen hätten.“
„Aber Mama, bitte nicht die Pelzjacke, bitte, bitte“, bettelte ich, denn das war überhaupt das schönste Kleidungsstück, das sie besaß.
„Ach was, die brauche ich sicher nie wieder.“
Traurigkeit schwang in Mamas künstlich heiterer Stimme mit. „Aber für die Pelzjacke bekomme ich nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch ein paar Filzstiefel für dich, vielleicht noch einen warmen Schal dazu. Vergiss nicht, du musst auch bald zur Schule.“
Heiliger Strohsack, auch das noch! Das hatte ich ja glatt vergessen!
„Wie soll ich denn in die Schule gehen, wo ich doch noch so wenig Russisch kann?“ Meine Ausrede erschien mir unerschütterlich. Doch Mama durchschaute mich:
„Keine Sorge, du lernst es schneller, als du denkst, Kind! Zerbrich dir bloß deswegen nicht den Kopf! Jetzt aber ab ins Bett mit dir!“
Ich kuschelte mich an Mama, es war so beruhigend, wenn sie da war und erzählte ihr von der „Hexe“, bei der Klara und Lore wohnten. Dabei erinnerte ich mich an den russischen Führer:
„Wieso hast du gesagt, er wäre ein Ungeheuer? Der sieht ganz nett aus und schaut so gutmütig!“
Ich bekam keine Antwort, Mama war längst eingeschlafen.
Alle Deutschen müssen in die Baracken
Immer mehr Deutsche kamen in unser Dorf Gorki. Weil es so viele waren und sie nicht wie wir bei den Kolchosbauern untergebracht werden konnten, wurden am Rande des Dorfes Holzbaracken gebaut. Man munkelte sogar, sie würden mit Stacheldraht umzäunt und Milizmänner sollten das Lager bewachen.
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