Ich musste den Atem anhalten: Häuser, Scheunen, Heuschober und Bäume hatten dicke weiße Gewänder an, die in der Novembersonne glitzerten und funkelten. Die Schneeberge zu beiden Seiten des Pfades, den unsere Wirtin Tante Njura schon früh am Morgen freigeschaufelt hatte, waren so hoch, dass ich nicht einmal einen Blick über sie werfen konnte. Die Straße war auch keine richtige Straße, sondern eine von Schlitten festgefahrene Spur, zu deren beiden Seiten Bauernkaten standen.
Ich war schon ziemlich weit weg von unserem Haus, als ich merkte, dass ich die Kälte unterschätzt hatte. Meine Füße in den flachen Schuhen froren entsetzlich, die Finger waren klamm und ungehorsam, die Wangen brannten, als jagte mir jemand Nadeln unter die Haut. Am liebsten hätte ich kehrt gemacht, aber wohin? Verzweifelt sah ich mich um, die Häuser hinter den Schneebergen waren alle gleich. Ich war schon nahe daran, loszuheulen, da sah ich eine Frau mir entgegenkommen.
Sie fuchtelte entsetzt mit den Armen, redete in dieser unverständlichen Sprache aufgeregt auf mich ein, doch da ich nichts verstand, zeigte sie mir, ich sollte ihr folgen, und so trabte ich ihr gehorsam hinterher. Wir kamen bald zu ihrem Haus, wo sie mir die Schuhe auszog und meine Füße in große Filzstiefel, sogenannte Walenki steckte. In Zeichensprache bedeutete sie mir, ich solle auf den Ofen klettern. Als ich nach oben sah, traute ich meinen Augen nicht: Der ganze Ofenrand war mit Kindergesichtern gesäumt – Mädchen und Jungs, alles durcheinander gewürfelt! Sieben Augenpaare starrten mich neugierig und erwartungsvoll an. Ich starrte bestürzt zurück.
Die Frau kam mir zur Hilfe: sie drückte mir eine Tasse heiße Milch und ein Stück Brot in die Hand und schubste mich leicht zum Tisch. Schon rutschten die Kinder eins nach dem anderen vom Ofen und Hängeboden. „Kak tebja sowut?“ – wie heißt du? –, fragte eines der Mädchen in die Stille. Ich zuckte gewohnheitsmäßig mit den Schultern – verstehe leider nichts! Doch sie fragte weiter, und ich wurde wütend auf die ganze Welt! Das Mädchen tippte sich plötzlich auf die Brust, sagte ganz langsam:
‚Si-na’, streckte den Zeigefinger in meine Richtung und sah mich fragend an. Bei mir dämmerte es, ich sagte zögernd: „Emmi.“ Es hatte geklappt! Weiter ging es in der Vorstellungsrunde wie am Schnürchen – Dunja, Nadja, Galja, Sina – das waren die Mädchen. Dann kamen die Jungs an die Reihe – Wassja, Kostja, Sascha.
Ich wäre gerne noch länger geblieben, doch Mama machte sich sicher schon Sorgen. Ich musste nach Hause, und die Mutter meiner neuen Freunde schien mich nach Hause bringen zu wollen.
Ich zog den dünnen Wollmantel an, stülpte mein Mützchen über, verabschiedete mich von den Kindern mit einem ‚Auf Wiedersehen!’, das mit einem vielstimmigen ‚Doswidanja‘ beantwortet wurde, und zog mit der Frau ab.
Mama war nicht zu Hause, also konnte sie über meine Abwesenheit gar nicht beunruhigt gewesen sein, wohl aber unsere Wirtin Tante Njura.
„Mama – Kommandant“, sagte sie, „ponimajesch – verstehst du, – Kommandant?“ So, Mama war also irgendwo im Dorf bei jemandem, der „Kommandant“ hieß. Nicht weiter schlimm, dachte ich und machte, dass ich auf den Ofen kam.
Ich war recht zufrieden mit meinem ersten Tag in Russland. Ich hatte erstens viele russische Wörter gelernt: Ofen, Milch, Auf Wiedersehen. Zweitens, und das war die Hauptsache: Ich fand die Russen gar nicht so schlimm, im Gegenteil, sie waren alle sehr nett zu mir. Dass es aber auch ganz andere Russen gab als diese einfachen Bäuerinnen mit ihren Kindern, diese Erfahrung stand mir noch bevor.
Es dämmerte schon, als Mama nach Hause kam. Sie beachtete mich nicht und ging wortlos in unser Zimmer. Beunruhigt schlüpfte ich vom Ofen und machte vorsichtig die Tür auf. Mama lag in ihren Kleidern auf dem Bett, das Gesicht im Kissen vergraben und weinte. Ich weinte gleich mit. Es war immer so mit mir. Wenn Mama weinte, konnte ich meine Tränen auch nicht zurückhalten – wahrscheinlich aus Angst, denn Mama, das sagten alle, war eine starke Frau, und wenn sie weinte, musste etwas Furchtbares geschehen sein.
Mama richtete sich auf, drückte mich fest an sich, als wollte sie mich vor allem Unheil der Welt schützen, und flüsterte unter Tränen:
„Nun sind wir endgültig verloren, mein Kleines! Ich war gerade bei diesem Kommandanten …“
„Wer ist das?“, ich konnte mit diesem Wort nichts anfangen. Ein neuer Weinkrampf schüttelte Mama, dann fuhr sie fort:
„Wie der uns angebrüllt hatte! Verräter der sowjetischen Heimat wären wir, deutsche Schweine, faschistisches Gesindel, und krepieren würden wir in diesen Wäldern, wie räudige Hunde, büßen sollten wir für all das, was die Deutschen in Russland angerichtet hätten.“ – Jetzt weinte sie laut. „Ab morgen sollen wir zur Arbeit gehen. Wir sind einer Holzfällerbrigade zugeteilt und sollen in einer Forstwirtschaft Bäume fällen. Sie liegt, hat er gesagt, zehn Kilometer von unserem Dorf entfernt. Er hat unsere Angst sichtlich genossen und gefragt, warum denn keine von uns wissen will, wie lange wir so arbeiten müssen. Da wir schwiegen, meinte er:
„Ein paar Stunden zum Ausschlafen täglich werden wohl reichen? Die übrige Zeit wird geschuftet, – tagein, tagaus, auch sonntags, und wehe der Schlampe, die das Soll nicht erfüllt! So geht es euch euer Leben lang! Auch euren Kindern und Kindeskindern!“
Mama erhob sich mühsam und ging im Zimmer auf und ab. Dann wandte sie sich mir zu:
„Du bleibst morgen schön zu Hause, denn du könntest dich leicht verlaufen, und dann gnade dir Gott! Du merkst es selber nicht, wie du erfrierst. Ja, noch etwas: Du musst wissen, dass wir hierher verbannt sind für ewige Zeiten.“
„Was ist ‚verbannt’?“, wollte ich wissen, obwohl ich sah, dass ich meiner Mutter allmählich mit der Fragerei auf die Nerven ging.
„Weil wir Deutsche sind, dürfen wir nie mehr nach Hause nach Marienheim, sondern müssen lebenslänglich hier bleiben, in diesem Dorf, das wir ohne die Erlaubnis des Kommandanten nicht verlassen dürfen – das heißt verbannt.“
Sie weinte schon wieder.
„Wie Sklaven?“ Mama schaute mich verdutzt an. „Woher kennst du überhaupt dieses Wort?“
„Ich habe mal eine Geschichte über die Sklaven gelesen“, ich war noch nicht ganz fertig mit meinem Satz, als Mama mich in die Arme nahm und unter Tränen murmelte:
„Mein Kleines, mein ein und alles.“
Wir klammerten uns aneinander, ein kleines Mädchen und eine Frau, die in den Wirren des Krieges alles bis auf dieses Kind verloren hatte. Verloren zu haben glaubte.
Den ersten großen Verlust hatte sie schon viel früher hinnehmen müssen, als 1937 auf dem Höhepunkt des stalinschen Terrors, in der Zeit der Massenverhaftungen und Hinrichtungen, ihr Mann, mein Vater, verhaftet und verschleppt wurde. Während der allgemeinen Denunziationen, Verdächtigungen und des Terrors waren die Russlanddeutschen den Schergen Stalins schon allein wegen ihrer Herkunft verdächtig, und so wurde in den Jahren der berüchtigten ‚Jeshowschtschina‘, die nach dem 1938 von L. Beria abgelösten Innenminister N. Jeshow benannte Terrorwelle in der Sowjetunion, nahezu die ganze gebildete Schicht der Deutschen in der UdSSR umgebracht.
An diesem sonnigen Altweibersommertag Ende September 1937 sind die Straßen des deutschen Dorfes Marienheim im Gebiet Odessa menschenleer. Ab und zu durchbricht das Gackern eines Huhnes oder das Kläffen eines im Schlaf gestörten Hundes die träge Mittagsstille. Kinder spielen vor dem Haus am Rand der Dorfstraße, über die gerade eine schnatternde Entenschar watschelt. Von Zeit zu Zeit hört man ein Pferdefuhrwerk vorüberrollen. Die Bauern nutzen die Gunst der Stunde und haben es eilig, die Wassermelonen und den Mais, der hier Welschkorn heißt, einzubringen, solange das Wetter noch schön ist. Dann kehrt wieder friedliche Ruhe im Dorf ein .
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