Man ließ mich ungehindert ziehen. Damit hatte ich eigentlich nicht gerechnet, aber wahrscheinlich versprachen sich die Teufel von meiner weiteren Anwesenheit in der Hölle nichts als Komplikationen. Mit dieser Annahme hätten sie durchaus richtig gelegen.
Auf meinem Weg nach draußen gelang es mir, einige Worte mit Max zu wechseln. „Ich bin schwimmen gegangen, habe einen Herzinfarkt bekommen und das war’s dann“, erzählte er mir. Ich war gerührt. „Max, du bist ein echter Freund. Ich hatte solches Heimweh! Ich wünsche mir, dass du auch zu uns kommst. Im Prinzip ist der Weihnachtshimmel nämlich eine prima Erfindung.“ Endlich waren wir vor dem großen Eisentor angelangt, das sich langsam öffnete. Ich drückte dem Professor beide Hände. „Komm bald nach, hörst du? Wenn du mich nicht gleich findest, geh in die Backstube zum Krummziebel Josef und warte dort auf mich. Ich schaue regelmäßig da vorbei.“ Max nickte, ebenfalls sichtlich gerührt. „Nun hau schon ab. Ehe sie sich es wieder anders überlegen.“ Er klopfte mir kurz auf die Schulter – und dann stand ich wieder in der Steinwüste, während sich das Tor hinter mir schloss. In der Ferne ragte die Treppe zum Himmel auf. Abermillionen Stufen – und kein Aufzug. Na ja, ein wenig Fitness konnte schließlich nicht schaden.
Und so marschierte ich tapfer Stufe für Stufe meinem Ziel entgegen. Ich war tagelang unterwegs, aber froh, dem Abenteuer in der Spielhölle entronnen zu sein. In der Gaststätte „Zum Fegefeuer“ traf ich Klaus-Dieter, einen Bekannten von mir. „Gottchen, was haben die einen Aufstand um dich gemacht, als du plötzlich verschwunden warst“, berichtete er mir. „Und wer ist dafür verantwortlich, dass der Sog mich nicht nach oben gezogen hat?“, wollte ich wissen. Klaus-Dieter war so ziemlich die größte Klatschbase im Weihnachtshimmel, aber sonst ganz nett und hilfsbereit. „Wie man hört, wohl dein Busenfreund Richard. Aber das weiß ich auch nur inoffiziell. Stell dir vor, der Nikolaus will Richard in die Hölle verbannen! Dabei hat er so ein knackiges Popöchen! Richard, meine ich, nicht der Chef!“ Sieh an, Richard, die alte canaille . Ich hätte es mir denken können. „Bist du mit deiner Wolke hier?“, fragte ich ihn. Er nickte. „Ja. Soll ich dich mitnehmen?“
Ich streckte mich lang auf der watteweichen rosafarbenen Wolke aus, auf der Klaus-Dieter zu reisen pflegte. Welche Labsal nach all den Strapazen! Ich war völlig zerschlagen, aber glücklich, wieder zu Hause zu sein. „Den wievielten haben wir heute eigentlich?“, fragte ich Klaus-Dieter. „Den 22. Dezember“, entgegnete dieser. Himmel, Weihnachten stand vor der Tür! Ich musste die Bescherungslisten holen und meinen Schlitten laden! Aber das hatte noch fünf Minuten Zeit. „Wo soll ich dich hinfliegen?“ – „In die Backstube.“
Zimtgeruch lag in der Luft. Und Vanille. Und Rumaroma. Welch eine Wohltat nach dem Schwefelgestank, den ich immer noch in der Nase hatte! Hier oben herrschte geschäftiges Treiben. Der Krummziebel Josef stach sorgfältig Plätzchen aus.
„Hallo, Josef!“ Der Backstubenchef sah kurz auf. „I hab scho g´moant, du kimmst nimma!“ – „Ich auch, mon ami , ich auch.“, seufzte ich, während ich meinen Finger in eine riesige Schüssel mit Makronenteig tauchte und genussvoll abschleckte. „Magst a Kuch’n?“ – „Welche Frage! Wie wär´s mit einer Sachertorte?“ In der nächsten halben Stunde verdrückte ich drei Torten und einen Hektoliter Kakao mit Schlagsahne, während ich dem Krummziebel Josef mein Abenteuer schilderte. Der nickte ab und zu und kommentierte mit knappen Worten meine Erzählung, während er im Akkord präzise geformte Kekse auf die Backbleche legte. Von all den Mafia-Größen war ihm nur Al Capone persönlich bekannt, hatte er doch einst mit ihm am Pokertisch gespielt.
Langsam erholte sich meine geschundene Seele und es wurde Zeit aufzubrechen. „Josef, die Arbeit wartet. Man sieht sich!“ Der Chefpâtissier gab mir noch ein paar Zimtsterne mit auf den Weg, dann machte ich mich auf die Socken in die Weihnachtsgeschenkeverteilungshauptstelle (WGVHS).
Ich fühlte, wie mir langsam wieder Flügel wuchsen. Engelsflügel sind äußerst hitzeempfindliche Körperteile. Bei meinem Besuch in der Hölle waren sie geschmolzen. Das tat zwar nicht weiter weh, aber im Moment konnte ich natürlich nicht fliegen. Das würde wohl noch einige Zeit dauern. Zunächst war ich noch auf ein anderes Transportmittel angewiesen. Ich sprang also auf eine kleine Kumuluswolke und flog ins Geschenkeverteilungszentrum. Diese Geschäftigkeit überall! Und lauter friedliche Engel mit Flügeln! Und diese Harfenmusik, wie hatte ich sie vermisst!
Man nahm kaum Notiz von mir, während ich mir meinen Weg vorbei an Paketbergen, Schlitten und ungeduldig mit den Hufen scharrenden Rentieren bahnte. Auf riesigen Lebkuchentafeln standen in Zuckergussschrift die Namen der Weihnachtsengel und ihrer Distrikte. „Bruxelles – George“, „Liége – Albert“, „Aachen Zentrum – Kaiser Karl“, und dann, endlich „Rheinland – Giuseppe“. Giuseppe? Wieso Giuseppe? Das war mein Zustellbezirk. Überhaupt – dieser Italiener hatte mir die Suppe eingebrockt. Wäre er nicht gewesen, die ganzen Strapazen in der Hölle wären mir erspart geblieben! Und jetzt nahm er mir auch noch den Job weg! Der Winzer, der mein Kommen nicht bemerkt hatte, lud sorgfältig die Pakete auf den Schlitten. Ich ging auf ihn zu und packte ihn an der Kehle. „Zieh Leine, Freundchen. Das ist mein Bezirk!!“ Der Italiener war sichtlich überrascht mich zu sehen. „Alexis!“, krächzte er, „aber das ist doch ein Missverständnis. Ich helfe dir doch nur! Sieh, was auf der Tafel steht!“ Ich besah mir die Lebkuchenplatte näher. Richtig, hinter „Giuseppe“, stand ein kleines „i.V.“ Aber so klein geschrieben! Da brauchte man glatt eine Brille. „Na, mein Sohn? Wieder im Himmel?“ Ohne, dass ich ihn bemerkt hatte, war der Nikolaus herangeflogen. Nachdenklich wanderte sein Blick zwischen dem immer noch geröteten Gesicht des Winzers und meinem hin und her. „Oh, hallo Chef. Ja, bin eben angekommen.“ – „Das ist gut. Denn in diesem Jahr haben wir die Gebiete ein wenig vergrößert. Aus Kostengründen. Du wirst auch im Ruhrgebiet bescheren. Giuseppe wird dich dabei unterstützen. Also: An die Arbeit! Übermorgen ist Heiligabend!“ Und der Nikolaus wollte davonfliegen. Am Zipfel seines roten Samtanzuges hielt ich ihn jedoch zurück. „Chef, warum hat mich der Sog nicht erfasst?“ Die kleinen Knopfaugen blickten mich nachdenklich an. „Hmmm. Nennen wir es – Sabotage?“ Mehr bekam ich aus ihm nicht heraus. Dann drehte er sich endgültig um und flog davon.
Ich war zerknirscht. „Entschuldige, Giuseppe. Aber ich habe gedacht …“ – „Schon klar. Aber keine Sorge. Ich helfe nur aus. Danke übrigens, dass du deinen Urlaub geopfert hast, um meinen Wunsch zu erfüllen. Die Gratis-Eis-Aktion war eine tolle Idee!“, sagte Giuseppe. „Hat mir viel Spaß gemacht“, entgegnete ich. „Aber sag’ mal – sind das nicht zu wenig Pakete für so viele Menschen?“ Der Winzer stimmte mir zu. „Finde ich auch. Aber der Chef meinte, das läge daran, dass so viele Menschen arbeitslos seien. Sie hätten einfach kein Geld für Weihnachtsgeschenke übrig.“
Ich dachte nach. „Ich wüsste schon, wie man das Paketvolumen vergrößern kann. Such den Chef und lenke ihn ab.“ – „Wie denn?“, wollte der Winzer wissen. „Ich weiß nicht. Meinetwegen mache ihm weis, du hättest Pakete zerdeppert. Etwas wird dir schon einfallen. Und vor allem: Schaffe ihn aus der WGVHS!“ Giuseppe flog davon. Ich machte mich ebenfalls auf den Weg: In Richtung Zustellbezirk Côte d’Azur, Distrikt Monaco. Zum Glück war der monegassische Weihnachtsengel eine träge Type. Er merkte nicht, wie ich die Pakete, die er auf den Schlitten lud, von der anderen Seite wieder herunterklaubte und in meiner Wolke versteckte. Da kam hübsch etwas zusammen, schließlich sind viele Einwohner des Zwergenstaates reiche Leute. Mit den so gebunkerten Paketen flog ich wieder zurück und lud sie auf meinen Schlitten. Die Bescherung konnte beginnen.
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