Von hinten drängelte sich eine Seele an uns heran. „Ben, es gibt Ärger. Hinten, an Tisch 87009 sitzt doch tatsächlich ein Typ mit einer Glückssträhne!“ Sofort machte sich Siegel auf, um den Ruf des Casinos zu retten. Meyer Lansky führte mich weiter durch die Spielhölle.
Die beiden Herren, die mich aus der Wüste in das höllische Spielerparadies geführt hatten, waren waschechte Mafiosi. Sicherlich haben Sie auch schon von ihnen gehört.
Benjamin Siegel war zu Lebzeiten ein extrovertierter Gangster und Playboy gewesen. Stets mit Pomade im Haar und maßgefertigten Anzügen hatte er viele Menschen auf dem Gewissen, die sich nicht den starren kriminellen Prinzipien der amerikanischen Mafia unterordnen wollten. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg schickte ihn sein Oberboss nach Las Vegas, wo die organisierte Kriminalität ein Spielcasino nach dem anderen eröffnete. Hier, mitten in der Wüste, sollte das genialste Spielerparadies aller Zeiten entstehen und die Mafia sich eine goldene Nase verdienen. Die Chefetage beauftragte Siegel damit, den Bau des legendären Clubs „Flamingo“ zu beaufsichtigen, was er mit Unterstützung seiner damaligen Geliebten Virginia Hill auch tat. Am 26. Dezember 1946 fand die Einweihung des Casinos statt. Ein grandioser Flop. Denn das „Flamingo“ hatte am Tag seiner Eröffnung das Pech, dass die meisten seiner Spieler mit dicken Gewinnen in der Tasche viel zu früh nach Hause gingen. Das Hotel, das dem Club angeschlossen werden sollte, befand sich zu diesem Zeitpunkt noch im Bau, was den finanziellen Erfolg der Unternehmung stark beeinträchtigte. Denn die männlichen Gäste pflegten damals ihre Gattinnen zu einer geziemenden Uhrzeit ins Bett zu schicken, während sie selbst noch ein Ründchen zu spielen pflegten, um so ihre Gewinne in der Regel wieder der Spielbank zu überlassen. Hätten genügend Betten zur Verfügung gestanden, wer weiß, vielleicht wäre alles anders gekommen. Aber erst mal schloss der Club im Januar 1947 seine Pforten. Mit diesem geschäftlichen Misserfolg wurde quasi auch „Bugsy“ Siegels Schicksal besiegelt: Im Juni 1947 entdeckte man ihn blutüberströmt und mausetot auf dem Sofa seiner Freundin. Sein rechtes Auge lag fünf Meter entfernt auf dem Fußboden. Das Foto des toten Gangsters war damals um die Welt gegangen. Ich hatte die Vorgänge von meiner Wolke aus ein wenig verfolgt. Der spektakuläre Mord hatte auch bei uns im Himmel für reichlich Gesprächsstoff gesorgt.
Meyer Lansky war ein anderer Typ. Der schmächtige ältere Mann im abgetragenen Anzug war der Oberbuchhalter und Chefbankier der Mafia gewesen, ein wahres Finanzgenie, das die Millionen nur so scheffelte. Äußerlich unauffällig, aber unglaublich intelligent. Soweit ich mich erinnere, war es niemals gelungen, ihm einen Mord nachzuweisen. Wenngleich ihm der amerikanische Staat Anfang der Fünfziger Jahre einige Monate freie Kost und Logis in einem Staatsgefängnis gewährt hatte, dieses allerdings aufgrund einer Anklage wegen konspirativer Geschäfte und illegalen Glücksspiels. Weiter wusste ich nur, dass der kleine Jude irgendwann nach Israel ausgewandert war, wo er 1983 starb.
Im Gefolge Lanskys schob ich mich weiter durch die Ansammlung von Seelen. Es war ein furchtbarer Anblick, diese gequälten Gesichter, die jedes Mal ein Stöhnen von sich gaben, wenn die Bank mal wieder gewonnen hatte, die Hoffnung schwand und das Antlitz wieder ein Stück verblasste. Alles Negative der Welt schien sich in diesen Seelen zu spiegeln, nirgends war ein Lachen zu hören. Wie herrlich war dagegen doch der Weihnachtshimmel! Gut, der Chef war stets ein unkalkulierbarer Stressfaktor gewesen, aber sonst …
Und ich beschloss, dass ich der zweite Teufelsanwärter sein würde, der in den Himmel gelangen sollte. Ich wollte wieder Alexis, der Weihnachtsengel sein und mit meinem Freund Josef Krummziebel in der gemütlichen Backstube bei Marillenknödeln philosophieren. Ich wollte Bescherungslisten aufstellen, Weihnachtsgeschenke verteilen und die Rentierställe ausmisten. Ich wollte sogar freiwillig die Himmelstreppe putzen und dem Nikolaus nie mehr Probleme bereiten. Ich wollte ein Schleimer werden und jede Anweisung des Chefs auf das Penibelste befolgen. Das Heimweh packte mich. Ich wollte hier raus!!! Ich hatte den Höllenkoller!!!!!!!!
Lansky blicke sich um. „Kleiner, hast Du den Höllenkoller? Das vergeht. Spätestens dann, wenn man dich im Fegefeuer aufnimmt und du ein echter Teufel wirst.“ Er wies auf einen Glaskasten inmitten des Casinos, in dem harte Jungs mit gebrochenen Nasenbeinen und Teufelshörnern um einen Tisch saßen und dicke Zigarren rauchten. „Das sind die Bosse der Bosse. Lucky Luciano, Sam Giancana und Al Capone, ein älteres Semester. Ich gehöre, in aller Bescheidenheit, auch dazu. Ich bin der Finanzchef. Wir Amis haben Glück, dass die Leitung derzeit in unserer Hand ist. Das war nicht immer so. Vor zehn Jahren waren es die Russen, später die Rumänen, die sich die Chefetage erkämpft hatten. Aber wir haben sie schließlich zurückerobert!“ Mit welchen Mitteln, danach wagte ich nicht zu fragen.
Mittlerweile waren wir bei dem Roulettetisch 87009 angelangt. Da saß, Moment, den kannte ich doch, richtig: „The Voice“, Frank Sinatra höchstpersönlich, und beriet einen Spieler. „Das haben wir damals auch schon so gemacht: Wenn ein Spieler in Vegas in einem Club kräftig gewonnen hatte, holten wir Frank. Der schmeichelte dem Gewinner so sehr, dass er erneut ein paar Runden spielte, allerdings mit weniger Konzentration. Der Gewinn fiel dann wieder an die Bank“, erklärte Lansky. Dass Sinatra und andere Hollywood-Größen damals im Showgeschäft kriminelle Verbindungen pflegten, davon hatte ich schon gehört.
Plötzlich stand Benjamin Siegel wieder neben mir. „Come on, boy , versuch es. Macht doch Spaß!” Und er schlug mir auf die Schulter. Seufzend folgte ich seinem Rat und ging mit ihm und Lansky zur Kasse. Zu meiner Überraschung bekam ich ein ganz ansehnliches Häuflein Jetons.
„Was wirst du spielen?“ – „Roulette, denke ich.“ Lansky nickte und führte mich durch das Gedränge an einen Tisch. Ich war, zugegebenermaßen, wahnsinnig nervös. Max hatte mir zwar einige Tricks beigebracht, aber würde das reichen? Ich packte einen grünen Jeton und setzte ihn auf die 34.
Stunden später. Ich hatte mich wacker geschlagen und nur wenig verloren. Ich fühlte mich aber ein wenig müde. Die Stimmen um mich herum drangen wie durch Watte an mein Ohr, meine Konzentration ließ merklich nach. Nach dem System meines Freundes Max hätte ich jetzt die 22 setzen müssen, oder war es die 26? Ich setzte auf die 26 und die Kugel blieb auf der 22 liegen. Vier Jetons fielen an die Bank, und ich war auf einmal soooo müüüde …
Laßt mich schlafen, bitte, bitte, lasst mich schlafen …
„Alexis, reiß dich zusammen. Spiele jetzt zwei Mal hintereinander Rot, dann die Neun!“ Ich träumte, Max stünde hinter mir und gäbe mir Anweisungen. Ach ja, Lugano war schön … Ich seufzte.
Jemand boxte mich in den Rücken. „Aufwachen, Alexis, spiele Rot!“ Also gut. Mit letzter Kraft schob ich drei Jetons auf das rote Feld. Sie gewannen und mein Einsatz wurde verdoppelt. Sofort fühlte ich mich ein wenig besser. Ich spielte noch einmal Rot, und dann die Neun. Mit jedem Gewinn stieg meine Konzentration. „Setze auf die 12!“ Ich drehte mich kurz um. Hinter mir stand – Max. „Was tust du hier?“ – „Später. Wir haben jetzt keine Zeit. Spiele um deine Seele.“
Ich spielte – und gewann. Und gewann. Und gewann. Mittlerweile hatten sich die Mafiosi aus dem Glaskasten um unseren Tisch versammelt. Frank Sinatra stellte sich neben mich und sang „My way!“ Ich fand diese musikalische Untermalung ganz nett, ließ mich aber nicht ablenken. Dass ich endgültig gewonnen hatte, merkte ich, als Bugsy einen seiner berüchtigten Wutanfälle bekam und in die Tischplatte biss. Die teuflischen Gangster heulten wie die Wölfe. Zum zweiten Mal hatte jemand seine Seele in den Himmel gerettet.
Читать дальше