„Ich habe noch nie einen toten Menschen gesehen“, sprach er in den Raum, ohne mit jemandem Blickkontakt aufzunehmen. Schweißperlen hatten sich auf seiner hohen Stirn und oberhalb der Lippe gebildet, weshalb ich ihm vorsorglich einen Stuhl zuschob. Er sackte sofort hinein, blieb dankbar sitzen und für den Rest der Befragung sprachlos, sodass Frank für ihn das Wort übernahm.
„Herr Neyer konnte sie anhand ihrer ca. 15 cm langen Kaiserschnittnarbe und dem darüber gestochenen Tattoo ‚Louisa‘ zweifelsfrei identifizieren“, übernahm Frank die Zusammenfassung. Das hieß, dass Herr Neyer sie definitiv auch unbekleidet kennen musste, was ihn natürlich in unseren Fokus setzte und spontan zu meinem persönlichen Verdächtigen Nr. 1 machte. Trotz seiner gezeigten Erschütterung.
„Sie hat vor fünf Jahren ihr ungeborenes Kind im neunten Monat bei einem Autounfall verloren. Ihr Bauch war auf dem Fahrersitz zwischen Sitz, Airbag und Armaturen eingeklemmt worden. Die Ärzte in der Uni-Klinik hatten wohl noch versucht, es per Kaiserschnitt lebend auf die Welt zu holen. Aber Louisa war regelrecht im Mutterleib zerquetscht worden. Ihr kleiner Brustkorb hatte sich komplett nach innen verschoben und nahezu alle Organe zum Versagen gebracht. So, als hätte sie keine Rippen“, wiederholte Frank, das was Herr Neyer ihm in den wenigen Minuten erzählt hatte.
„Frau Grimm hatte wohl gerade erst begonnen, die Ereignisse von damals hinter sich zu lassen“, gab Frank weiter, was Oliver Neyer wie unter Schock zu Protokoll gegeben hatte. Dieser nickte kaum merklich und kauerte mit gesenktem Kopf immer noch auf unserem Bürostuhl. Jetzt trat auch mir kalter Schweiß aus allen Poren und ich beneidete ihn um die Sitzgelegenheit, die er nicht zu verlassen beabsichtigte. Ich musste standfest bleiben und hielt mich mit der rechten Hand an der Schreibtischplatte fest.
Wir waren alle merkbar geschockt und empfanden tiefes Mitgefühl. Für Lena, aber auch für Herrn Neyer.
„Schrecklich!“, meinte Andreas und man konnte ihm anmerken, dass er sofort wieder in sein eigenes Schicksal abdriftete.
„Vielleicht war Neyer der Vater des ungeborenen Kindes und sie hatten sich über irgendetwas gestritten, was dann eskalierte“, überlegte Frank, als Herr Neyer nach der Toilette gefragt hatte und wir für einen kurzen Augenblick allein im Büro waren. Andreas schaute ihn scharf an und teilte die Auffassung offensichtlich nicht. So oder so war es für eine Vorverurteilung zu früh und wir mussten versuchen, an diesem Punkt neutral zu bleiben, bis sich gegebenenfalls ein konkreter Verdacht abzeichnete. Für einen Haftbefehl würde diese Annahme alleine nie und nimmer ausreichen. Herr Zartmann, unser zuständiger Staatsanwalt, würde nur müde lächeln. Da uns der Todeszeitpunkt von Frau Grimm unbekannt war, machte es auch keinen Sinn, Herrn Neyer nach einem Alibi zu fragen. Als Frank ihn zum Ausgang begleitete, bat er ihn, für weitere Fragen unbedingt erreichbar zu bleiben.
„Jetzt wissen wir definitiv, dass es Lena Grimm ist.“ Andreas ging schnell zur Normalität über und nahm mich ran. „Sara, sichte bitte alle Fakten im Hinblick auf Parallelen zu anderen Fällen – auch bundesweit. Und versuch, so viel wie möglich über sie und ihr Leben herauszubekommen.“
Wie aufregend – ich durfte endlich tief in die Theorien der Ermittlungen einsteigen. Ich freute mich so sehr, dass Andreas meinte:
„Sara, ganz ruhig. Wir befördern Dich nicht gleich zur Polizeipräsidentin. Das ist eine ganz normale Unterstützung, der wir uns bedienen und die wir von Dir erwarten!“
Ok! Ich war sofort wieder geerdet, wurde knallrot und machte mich schamerfüllt an die Arbeit.
„Ist schon gut, Andreas. Ich freu mich doch nur, dass ich endlich das tun kann, worauf ich so lange gewartet habe.“
Taktvoll ignorierte er, was ich sagte und ging nicht wieder auf das Thema ein.
„Ach ja und informier‘ die Presseabteilung. Sie sollen die Identifizierung bestätigen und veröffentlichen!“, rief er mir hinterher, als er mehr oder weniger schon auf dem Flur verschwunden war.
Nach dem Auffinden von Nummer Zwei hatte er es dann doch ziemlich schnell in die Tagespresse geschafft. Natürlich nicht er selbst – aber sein Opfer. Genauso hatte er das gewollt. Sie sollte gefunden werden und vor allem noch als Lena Grimm zu identifizieren sein. Bravo Kripo! Da hatten sie mal rasch ermittelt und gute Arbeit geleistet. Gerade war die Identifizierung bestätigt und ihr Name öffentlich gemacht worden. Im Weiteren erbat sich die Polizei die Mithilfe der Bevölkerung, um Ermittlungsansätze zu erheben. Sie tappten im Dunkeln. Für ihn eine weitere Genugtuung. Zufriedenheit machte sich breit und schickte Millionen Endorphine durch seinen Körper, denn der fehlende Triumph bei seiner ersten Leiche war schlimm genug gewesen und hatte ihn wochenlang verzweifelt sein lassen. Das war nun Balsam auf seine geschundene Seele.
In ihrem Bericht wies die Kripo auf die Fundstelle und ihre Nähe zum Auffindungsort der Knochen hin – von einem möglichen Zusammenhang schrieben sie nichts. Noch nicht! Dass das Opfer laut dem Bericht nur leicht bekleidet gewesen war und keine Wäsche trug, war für ihn nicht neu. Als er sie traf, war er ebenfalls verwundert über ihr Sommerkleidchen, bei den doch empfindlichen Außentemperaturen – da trug sie aber immerhin noch ihre Wäsche, die er später als eine Art Trophäe mitgenommen hatte. Die Erinnerung an den Moment, als er seine Nase in ihren Schlüpfer steckte, erregte ihn auch jetzt noch. Daran merkte er, dass sich zu seinem eigentlichen Motiv inzwischen auch perverse Strukturen gesellt hatten und ein unkontrollierbar gewordener Trieb mehr und mehr Einfluss auf seine Taten nahm. Rache, Lust, Rache, Lust, Rache, Lust … Seine Vorfreude auf Opfer Nummer Drei strahlte Wärme durch seinen ganzen Körper und verharrte sichtbar im Zentrum. Die Erektion half ihm für einen Moment über die Sehnsucht auf seine nächste Auserwählte. Von der toten Nummer Eins waren nur Knochen übriggeblieben, als man sie nach einer gefühlten Ewigkeit fand. Ein paar Reste hatte er selbst noch bei der Entsorgung von Lena Grimm entdeckt.
Als er ihren Körper vom Auto zu ihrem vorgesehenen Platz geschleppt hatte, waren mehrere Pausen nötig geworden, da der Weg schwer zugänglich war und die wieder erschlaffte Leiche ihr Gewicht gefühlt verdoppelt hatte. Er war ins Sperrgebiet eingedrungen und hatte Umwege und Hindernisse in Kauf genommen, um sie schließlich doch am Rande eines offiziellen Weges abzulegen. Durch die Wahl dieser Route war er zwar das Risiko eingegangen, einer Mine zum Opfer zu fallen – er vermied dadurch aber, zu viele sofort erkennbare Spuren von sich zu hinterlassen, die der Polizei helfen konnten, aufmerksam zu werden und schon jetzt eine Verbindung zu ihm herzustellen. Zu einer Zeit, wo noch viel vor ihm lag. Unvorstellbar, wenn er gerade jetzt daran gehindert werden würde. Er musste professionell bleiben und immer auf der Hut sein. Mehr denn je. Im Zweifel Unwägbarkeiten, wie den gewaltigen und gefährlichen Umweg durch das Sperrgebiet, hinnehmen. Dabei war er immer mal wieder auf Knochen gestoßen. Er wusste genau, wem sie gehörten und dass diejenigen, die hier herumlagen, in der Schublade in Köln fehlten. Die schlampige Arbeit der Polizei war seiner unwürdig und machte ihn wütend. Sehr wütend. Definitiv hatten sie nicht alle Knochen gefunden. Mindestens vier Rippen und die linke Schulter mussten dem Gesamtwerk gefehlt haben. Er hasste es, dass sie so gleichgültig waren. Sie ließen ihm und seinen Opfern nicht die notwendige Aufmerksamkeit zukommen.
Wäre der Journalist nicht gewesen, der voller Stolz und triumphierend den Skalp in die Kamera gehalten hatte, hätte Nummer Eins nie und nimmer für eine Story im EXPRESS gereicht. Aber genau darum ging es doch. Um die öffentliche Demütigung der Frauen, wenn sie gefunden und zur Schau gestellt wurden. Am liebsten wäre ihm, sie könnten es noch fühlen. Die scheinheiligen Damen. Genau das machte ihn an und das Gefühl steigerte sich ins Unermessliche, wenn er den Fundort unbemerkt beobachten konnte, während Ermittler und Gerichtsmediziner bis auf wenige Zentimeter an sie herangingen, um Proben an und in ihnen zu nehmen. Meistens mit einer langen Pinzette oder, wenn es in die Körperöffnungen ging, mit ebenso langen Wattestäbchen. Die wirklich größte Genugtuung empfand er aber, wenn die Spurensicherung Fotos von den toten Frauen machte. Der empfindlichste Augenblick. Ähnlich wie bei ihm selbst damals.
Читать дальше