• Sozialisationsprozesse sind immer in historisch vermittelte, kulturund sprachgemeinschaftliche Kontexte eingebettet. Durch die Einbeziehung in unterschiedliche Sozialsysteme, Institutionen und Interaktionszusammenhänge lernen die Einzelnen, ihre praktischen und kommunikativen Aktivitäten auf die verschiedenen Erwartungen und Sprachgewohnheiten ihrer Bezugspersonen, Gruppen und Sozialmilieus einzustellen (Grundmann 2006).
• Die individuellen Handlungsfähigkeiten entwickeln sich im Sozialisationsprozess auf der Grundlage der subjektiven Auseinandersetzung des Einzelnen mit den vorgefundenen Umweltbedingungen. Dabei wird angenommen, dass der Umgang mit Dingen und anderen Menschen, aber auch das Verhältnis zur eigenen Person stets von den individuellen Vorerfahrungen abhängig ist. Das heißt, dass die Art und Weise, wie eine Situation erlebt wird, nicht allein von den „objektiven“ Gegebenheiten, sondern von der persönlichen Wertigkeit und Erwartungshaltung abhängt (Mansel/Hurrelmann 2003).
• Im Zentrum der sozialisationstheoretischen Diskussionen steht die Erklärung der Entwicklung von Subjektautonomie und alltagstauglichen Handlungsfähigkeiten (Hurrelmann 2006). In dem Maße, in dem Gesellschaften Individualisierungsprozesse ermöglichen und erfordern, können und müssen die Einzelnen ihr Leben in Eigenregie in die Hand nehmen und lernen, kompetent, verantwortungsbewusst und autonom zu handeln (Zinnecker 2000, Bauer 2002). Insofern sind wir auch heute, wenngleich in veränderten gesellschaftlichen Konstellationen, ganz entschieden zur Selbstbestimmung gezwungen.
Theorien der Sozialisation
Die moderne sozialisationstheoretische Diskussion wurde von sehr unterschiedlichen Wissenschaftlern beeinflusst und geprägt. Bis heute gibt es keine allgemein akzeptierte Theorie, dafür aber eine Vielzahl von einzelnen Erklärungsansätzen. Diese werden in der Literatur häufig unter disziplinären Gesichtspunkten als soziologische und psychologische Basiskonzepte vorgestellt (Faulstich-Wieland 2000). Zieht man die verschiedenen theoriehistorischen Arbeiten heran (Geulen 1980, 1991; Veith 1996, 2001), schält sich ein relativ stabiler Korpus von Erklärungsansätzen und Autoren heraus ( Tabelle 1). Nur wenige der genannten Konzepte sind, wie die Theorie des Rollenlernens von Talcott Parsons, ausdrücklich als Sozialisationstheorien formuliert worden, und viele der namentlich aufgelisteten Wissenschaftler wurden erst sehr viel später als Sozialisationstheoretiker entdeckt. Dieses gilt insbesondere für George Herbert Mead, Alfred Schütz und Jean Piaget. Wissenschaftlich durchgesetzt hat sich das Sozialisationskonzept im deutschen Sprachraum in den 1970er Jahren im Kontext der Bildungsreformdebatte und der Diskussion über herkunftsbedingte Benachteiligungen.
Warum ist sozialisationstheoretisches Wissen wichtig?
Falls Sie sich jetzt fragen, wozu diese konzeptionellen Erläuterungen und diese vielen Theorien in der Praxis nützlich sein sollen, stellen Sie sich bitte einmal vor, Sie selbst hätten Kinder. Welche pädagogischen Angebote würden Sie sich wünschen? Ganz sicherlich wären Sie froh, wenn es in Ihrer Nachbarschaft Spielplätze und Sportvereine gäbe. Noch besser wäre es, wenn gute Kindergärten und Schulen, vielleicht auch noch Elterncafés und Beratungseinrichtungen vor Ort wären. Vor allem aber würde es Sie beruhigen, zu wissen, dass diejenigen, denen Sie Ihre Kinder anvertrauen, professionell arbeiten, d. h. konkret: über ein fundiertes fachliches Wissen in ihren jeweiligen Spezialgebieten verfügen, methodisches Geschick zeigen, diagnostischen Sachverstand besitzen, Einfühlungsvermögen haben und ihre eigene Tätigkeit selbstkritisch reflektieren. Solche Erwartungen sind legitim. Gerade im Erziehungs-und Bildungsbereich müssen die Fachkräfte heute sehr hohen theoretischen und praktischen Kompetenzansprüchen genügen:
• Von Erziehern wird erwartet, dass sie hinreichende Kenntnisse über die vielschichtigen Bedürfnisse von Kleinkindern mitbringen. Sie sollten in der Lage sein, über Pflege- und Betreuungsleistungen hinausgehend eine pädagogisch anregende, ja sogar bildungswirksame Atmosphäre herzustellen. Außerdem sollten sie ihre eigene Rolle als besondere Bezugs- und Bindungspersonen entwicklungssensibel hinterfragen (Tietze et al. 2005).
• Von Lehrern wird verlangt, dass sie gleichzeitig unterrichten, erziehen, beurteilen und aktiv ihre Schule entwickeln. Dabei arbeiten sie mit Kindern und Jugendlichen zusammen, die bereits früh unter Leistungsdruck gestellt, noch ganz am Anfang ihrer biografischen Entwicklung stehen. All das erfordert neben schulfachbezogenen Kompetenzen ein hohes Maß an psychosozialem Feingefühl, praktischer Perspektivenübernahmefähigkeit und selbstkritischer Reflexion (Beutel et al. 2006).
• Sozialpädagogen und Sozialarbeiter sind Experten im Umgang mit verhaltensauffälligen Personen. Sie beschäftigen sich mit Fällen von körperlicher und seelischer Gewalt, von sexuellem Missbrauch, Vernachlässigung oder Verwahrlosung. Dabei wird von ihnen erwartet, dass sie in der Lage sind, psychosoziale Gefährdungslagen zu erkennen und hilfebedürftige Menschen bei der Bewältigung ihrer Probleme oder beim Aufbau neuer Handlungsfähigkeiten zu unterstützen (Böhnisch 2005).
• Berater sehen sich mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert.
Ob Ehekonflikte, Erziehungsschwierigkeiten, Schulprobleme oder Drogenmissbrauch, immer hängt der Beratungserfolg entscheidend davon ab, wie es ihnen gelingt, gemeinsam mit ihren Klienten alltagstaugliche, auf die konkreten Personen und deren Lebenssituation zugeschnittene Handlungsperspektiven zu entwickeln (Nussbeck 2006).
Tabelle 1: Sozialisationstheoretische Konzepte
Kernaussage
Alle diese Berufe setzen ein hohes Maß an körperlicher und psychischer Belastungsfähigkeit voraus. Vor allem aber erfordern sie theoriegeleitetes Wissen über den menschlichen Sozialisationsprozess.
Wer professionell pädagogisch arbeiten will, sollte in der Lage sein, individuelle Entwicklungsstände zu erkennen. Zum Verständnis der Lebenssituation einer Person ist es außerdem wichtig, zu wissen, wodurch sich die Interaktionspraktiken in den verschiedenen Sozialisationsinstanzen unterscheiden. Dazu gehören ganz konkrete Kenntnisse über die sozialisatorischen Funktionen von Bezugspersonen, Gruppen und Organisationen. Vor allem aber benötigt man Wissen über die Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung. Gerade in der pädagogischen Praxis steht man immer wieder vor der Frage, was noch „normal“ und was bereits abweichendes Verhalten ist. Wer sich hier auf seinen gesunden Menschenverstand verlässt, stößt sehr schnell auf Widerstände und Grenzen. Häufig wird dann die Arbeit, die man mit viel Idealismus angefangen hat, zu einer überfordernden Belastung.
Literatur
Grusec, J.E., Hastings, P.D. (Hrsg.) (2007). Handbook of Socialization. Theory and Research.
Im Mittelpunkt des amerikanischen Handbuchs steht die Familie als zentrale Sozialisationsinstanz. Neben den gesellschaftlichen Bedingungen liegen weitere Schwerpunkte in der Darstellung der biologischen Entwicklungsbedingungen und der interkulturellen Aspekte von Sozialisation und Erziehung.
Hurrelmann, K., Grundmann, M., Walper, S. (Hrsg.) (2008): Handbuch Sozialisationsforschung.
In dem umfangreichen Herausgeberband wird in zahlreichen Einzelbeiträgen das Gegenstandsfeld der Sozialisationsforschung in seiner ganzen Breite dargestellt. Neben den theoretischen, historischen und konzeptionellen Grundlagen werden die verschiedenen Sozialisationskontexte sowie die unterschiedlichen Dimensionen der Persönlichkeitsentwicklung behandelt.
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