Nach Beendigung ihrer Mission in Syrien und Teilen Kleinasiens kehrten Barnabas und Paulus nach Antiochia zurück, um dann nach Jerusalem zum Apostelkonzil gesandt zu werden (vgl. Apg 15,1f). Eine etwas andere Darstellung über den konkreten Anlass der Jerusalemreise gibt Paulus in Gal 2,2a: „Ich zog aber hinauf auf Grund einer Offenbarung …“ Er ordnet seine Präsenz beim Apostelkonzil also nicht mehr im Rahmen der antiochenischen Missionstätigkeit ein. Man kann vermuten, dass die Anbindung des Barnabas und Paulus an die antiochenische Gemeinde im Vorfeld des Apostelkonzils der lukanischen Geschichtsschau entspringt. Andererseits formuliert aber auch Paulus tendenziös, denn er will seine Unabhängigkeit von Jerusalem und anderen Gemeinden betonen. Zudem gibt er den konkreten Anlass für seine Teilnahme am Apostelkonzil selbst zu erkennen: μή πως εἰς ϰενὸν τρέχω ἢ ἔδραμον (Gal 2,2c: „damit ich nicht etwa vergeblich liefe oder gelaufen wäre“). Toraobservante Judenchristen waren in die Heimatgemeinden des Apostels eingedrungen, sie beobachteten die dort gelebte Freiheit (von der Tora) und sind nun auf dem Apostelkonzil präsent, um die Beschneidung von Christen griechisch-römischer Religiosität zu fordern (Gal 2,4f). Paulus befürchtete offensichtlich, dass seine bisherige beschneidungsfreie (und damit aus jüdischer und streng judenchristlicher Sicht faktisch torafreie) Mission 19durch die Agitation dieser Gegner und ein von ihnen beeinflusstes Votum der Jerusalemer zunichte gemacht werden könnte. Dann wäre er seinem apostolischen Auftrag nicht nachgekommen, Gemeinden zu gründen (vgl. 1Thess 2,19; 1Kor 9,15–18.23; 2Kor 1,14). Mehr noch: Der Apostel sah seinen Ruhm am Tag Christi, sein eschatologisches Heil in Gefahr, wenn er seine ureigenste Aufgabe verfehlen würde (vgl. Phil 2,16).
Das Apostelkonzil ist mittelbar auch eine Folge bedeutender Veränderungen in der Geschichte der Urgemeinde. Im Rahmen der Verfolgungen durch Agrippa I. wurde im Jahr 42 n.Chr. nicht nur der Zebedaide Jakobus getötet (Apg 12,2), sondern Petrus verließ Jerusalem (Apg 12,17) und gab damit die Leitung der Urgemeinde auf. Der Herrenbruder Jakobus (vgl. Mk 6,3) trat offensichtlich an seine Stelle, wie ein Vergleich von Gal 1,18f mit 2,9; 1Kor 15,5 mit 15,7, aber auch die letzten Worte des Petrus in Apg 12,17b („Berichtet dies dem Jakobus und den Brüdern“) und Apg 15,13; 21,18 zeigen 20. Während Petrus wahrscheinlich eine liberale Haltung in der Frage nach Aufnahme von Unbeschnittenen in die neue Bewegung einnahm (vgl. Apg 10,34–48; Gal 2,11.12) und sich später selbst der Mission an Menschen aus griechisch-römischer Religiosität öffnete (vgl. 1Kor 1,12; 9,5), müssen Jakobus und seine Gruppe (vgl. Gal 2,12a) als Repräsentanten eines strengen Judenchristentums gelten, das sich bewusst als Teil des Judentums verstand und die Aufnahme in die neue Bewegung an eine Torabeachtung band 21. Er lehnte eine Tischgemeinschaft zwischen Judenchristen und Christen aus griechisch-römischer Tradition ab (Gal 2,12a) und wurde offenbar von den Pharisäern hoch geschätzt. Josephus berichtet, dass nach dem Martyrium des Jakobus im Jahr 62 n.Chr. die Pharisäer erbittert die Absetzung des verantwortlichen Hohenpriesters Ananus verlangten 22. Es muss als sehr wahrscheinlich gelten, dass die Befürworter einer Beschneidung von Christen aus griechisch-römischer Tradition sich durch die theologische Haltung des Jakobus in ihrer Forderung zumindest bestärkt fühlen konnten.
Die auf dem Apostelkonzil im Jahr 48 n.Chr. verhandelten Sachprobleme beschäftigten Paulus innerhalb seiner selbständigen Missionstätigkeit in zunehmendem Maß und spiegeln sich auch in seinen zwischen 50–60 n.Chr. abgefassten Briefen wider: Welche Kriterien müssen erfüllt sein, um zur auserwählten Gemeinde Gottes zu gehören und gleichzeitig die Kontinuität zum Gottesvolk des ersten Bundes zu wahren? Soll die Beschneidung als Zeichen des Bundes (vgl. Gen 17,11) und damit der Zugehörigkeit zum erwählten Volk Gottes 23auch für Christen aus griechisch-römischer Tradition generell verpflichtend sein? Muss ein Heide erst Jude werden, um Christ sein zu können? Wurde man aus jüdischer Perspektive nur durch Beschneidung und rituelles Tauchbad zum Proselyten und damit zum Glied des erwählten Gottesvolkes, dann lag aus streng judenchristlicher Sicht die Folgerung nahe, dass nur die Taufe auf den Namen Jesu Christi und die Beschneidung den neuen Heilsstatus vermitteln 24. Die auf dem Apostelkonzil (und beim antiochenischen Konflikt) verhandelten Probleme fallen somit in eine Zeit, in der die Definition dessen, was auf ritueller und sozialer Ebene das Christentum ausmacht, noch nicht abgeschlossen und damit auch noch nicht festgelegt war. Weder die christlichen Identitätszeichen (‚identity markers‘) noch der daraus folgende Lebenswandel (‚life-style‘) waren wirklich geklärt. Konnten christliche Gemeinden aus griechisch-römischer Tradition in gleicher Weise anerkannt werden wie judenchristliche Gemeinden, die zu einem erheblichen Teil noch innerhalb des Synagogenverbandes lebten? Muss die für jüdisches Selbstverständnis konstitutive Einheit von Volks- und Religionsgemeinschaft aufgehoben werden? Was bewirkt Heiligung und Reinheit? Wodurch erlangen die an Jesus Glaubenden Anteil am Volk Gottes, wie werden sie Träger der Verheißungen des Bundes Gottes mit Israel? Inwieweit sollen jüdische Identitätszeichen wie Beschneidung, Tischgemeinschaft nur unter Volksgenossen und Sabbat auch für die sich bildenden Gemeinden aus griechisch-römischer Religiosität gelten? Schließt die durch den Christusglauben bereits erfolgte grundsätzliche Statusveränderung weitere Statusveränderungen mit ein? Lassen sich in gleicher Weise Regelungen für die Glaubenden aus Judentum und griechisch-römischer Tradition finden, oder müssen unterschiedliche Wege beschritten werden? Sind Taufe und Beschneidung für alle Christusgläubigen verbindliche Initiationsriten, oder ermöglicht schon/nur die Taufe die vollgültige Aufnahme in das Volk Gottes?
Das Apostelkonzil gab keine allgemein akzeptierte Antwort auf diese Fragen 25, so dass weitere Auseinandersetzungen geradezu unausweichlich waren. Die paulinische Theologie ist in diesen konfliktreichen Prozess der Selbstdefinition des frühen Christentums eingebunden und wesentlich aus ihm heraus zu erklären, zugleich stellt sie aber die maßgebliche Lösung der Probleme dar.
1 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Die ersten 100 Jahre des Christentums, 138–141.
2 Vgl. hier M.HENGEL, Zwischen Jesus und Paulus. Die ‚Hellenisten‘, die ‚Sieben‘ und Stephanus, ZThK 72 (1975), 151–206; G.THEISSEN, Hellenisten und Hebräer (Apg 6,1–6). Gab es eine Spaltung in der Urgemeinde?, in: H.Lichtenberger (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion (FS M.Hengel), Bd. III, Tübingen 1996, 323–343; D.-A.KOCH, Crossing the Border: The ‚Hellenists‘ and their way to the Gentiles, Neotest 39 (2005), 289–312; M. ZUGMANN, „Hellenisten“ in der Apostelgeschichte, WUNT 2.264, Tübingen 2009.
3 Die Herkunft der Zahl Sieben könnte mit der Auslegung von Dtn 16,18 zusammenhängen, wonach in jeder Stadt sieben Männer regieren sollen; vgl. Jos, Ant 4,214.287.
4 Zum Nachweis vgl. M.HENGEL, Zwischen Jesus und Paulus, 161ff.
5 Vgl. G.THEISSEN, Hellenisten und Hebräer, 332–336.
6 Vgl. dazu die Analysen bei W.KRAUS, Volk Gottes (s.u. 6.7), 12–110.
7 Vgl. Jos, Bell 7,45, die Juden „veranlassten ständig eine Menge Griechen, zu ihren Gottesdiensten zu kommen, und machten diese gewissermaßen zu einem Teil der ihren“; zu Antiochia vgl. M.HENGEL/A.M. SCHWEMER, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien (s.o. 5), 274–299.
8 Für die Historizität dieser Nachrichten spricht, dass sie sich von der lukanischen Sicht unterscheiden; danach erfolgt die Missionierung Zyperns erst durch Paulus und Barnabas (vgl. Apg 13,4; 15,39). Nicht Petrus (vgl. Apg 10,1–11,18), sondern jene unbekannten christlichen Missionare leiten die entscheidende Epoche in der Geschichte des Urchristentums ein; zur Analyse von Apg 11,19–30 vgl. A.WEISER, Apg I (s.u. 8.4), 273–280. Freilich kann dies nicht bedeuten, dass es vor Antiochia keine Verkündigung gegenüber griechischsprachigen Nichtjuden gab! Die Mission in Samaria, Damaskus, Arabien und Kilikien schloss sicherlich auch diese Gruppe ein; vgl. M.HENGEL/A.M. SCHWEMER, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien (s.o. 5), 300.
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