Udo Schnelle - Theologie des Neuen Testaments

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Dieser Band stellt umfassend die Theologie des Neuen Testaments auf dem Stand der internationalen Forschung dar. Dem grundlegenden Abschnitt zur Verkündigung Jesu folgen umfangreiche Kapitel über Paulus, die Logienquelle, die synoptischen Evangelien, die Apostelgeschichte, die Deuteropaulinen, die johanneische Literatur u. a. Dabei werden in jedem Kapitel Theologie, Christologie, Pneumatologie, Soteriologie, Anthropologie, Ethik, Ekklesiologie und Eschatologie behandelt. Der Band ist nicht nur ein wissenschaftlich fundiertes Grundlagenwerk, sondern durch Inhalt und Struktur auch fächerübergreifend und für allgemein Interessierte attraktiv.

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Der Titel υἱὸς (τοῦ) ϑεοῦ findet sich ca. 80mal im Neuen Testament, er steht vor allem in traditionsgeschichtlicher Kontinuität zu Ps 2,7 und verbindet sich mit verschiedenen christologischen Konzeptionen 79. Paulus (15 Belege) übernahm ihn aus der Tradition (vgl. 1Thess 1,9f; Röm 1,3b–4a), wobei die besondere Platzierung von υἱός erkennen lässt, dass er diesem Titel eine hohe theologische Bedeutung zumaß. Der Sohnes-Titel bringt sowohl die enge Verbindung Jesu Christi mit dem Vater als auch seine Funktion als Heilsmittler zwischen Gott und den Menschen zum Ausdruck (vgl. 2Kor 1,19; Gal 1,16; 4,4.6; Röm 8,3). Bei Markus wird υἱὸς (τοῦ) ϑεοῦ zum zentralen christologischen Titel, der gleichermaßen Jesu himmlische und irdische Würde umfasst (s.u. 8.2.2). Auch Matthäus entfaltet eine ausgeprägte Sohn-Gottes-Christologie (s.u. 8.3.2), während bei Lukas der Titel nicht zentral ist.

Von besonderer Bedeutung ist die textpragmatische Funktion der Hoheitstitel; sie erscheinen gehäuft in den Briefpräskripten und Evangeliumseröffnungen und gehören dort zu den metakommunikativen Signalen, durch die Kommunikation eröffnet und Sinnwelten definiert werden. Voraussetzung für das Gelingen einer schriftlichen Kommunikation ist ein gemeinsames Wirklichkeitsverständnis zwischen Autor und Adressaten. Diese Wirklichkeit mit ihren vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Dimensionen wird durch die christologischen Titel benannt, zugleich auch vergegenwärtigt und als gemeinsames Glaubenswissen in Geltung gehalten 80.

Formeltraditionen

Als Glaubensformel (Pistisformel) werden jene frühen Texte bezeichnet, die in kurzer und prägnanter Form das in der Vergangenheit liegende christologische Heilsgeschehen formulieren 81. Der zentrale Text ist die vorpaulinische Tradition 1Kor 15,3b–5, die deutlich eine Grundstruktur erkennen lässt, die durch die Nennung der Geschehnisse und ihrer Deutung gekennzeichnet ist 82:

Sprachliches Subjekt ist Χριστός es geht um das Schicksal der entscheidenden - фото 14

Sprachliches Subjekt ist Χριστός; es geht um das Schicksal der entscheidenden Gestalt der Menschheit, die Individual- und Universalgeschichte in sich vereinigt. Dies ist möglich, weil Gott als das durchgängige sachliche Subjekt des Geschehens zu denken ist, sprachlich angezeigt durch die passiven Verbformen von ϑάπτω und ἐγείρω und das zweifache Interpretament ϰατὰ τὰς γραφάς. Die Reihung ‚gestorben – begraben‘ und ‚auferweckt – erschienen‘ benennt die Geschehnisse in ihrer zeitlichen und sachlichen Abfolge. Die Tempora der Verben haben Signalcharakter, denn die Aoristformen von ἀποϑνῄσϰειν und ϑάπτω bezeichnen ein abgeschlossenes und vergangenes Geschehen, während das Perf. Pass. ἐγήγερται 83die fortdauernde Wirkung des Geschehens betont 84. Christus ist von den Toten auferstanden, und die Auferstehung hat für den Gekreuzigten eine bleibende Wirkung. Das Passivum ὤφϑη in V. 5 betont im Anschluss an atl. Theophanien, dass die Erscheinungen des Auferstandenen dem Willen Gottes entsprechen. Die Protepiphanie vor Kephas ist in der Tradition verankert (vgl. 1Kor 15,5; Lk 24,34), ebenso die Erscheinungen vor dem Jüngerkreis (vgl. Mk 16,7; Mt 28,16–20; Lk 24,36–53; Joh 20,19–29). Grundlage der Deutung ist das Schriftzeugnis; bei der ὑπέρ-Wendung könnte an Jes 53,10–12; Ps 56,14; 116,8 gedacht sein, der ‚dritte Tag‘ lässt mehrere Interpretationsmöglichkeiten zu (historische Erinnerung, Bezug auf Hos 6,2; Bedeutung des 3. Tages in der antiken Kulturgeschichte des Todes) 85. Vergleichbare Anschauungen zu 1Kor 15,3b–5 finden sich in Lk 24,34, wo die passiven Verbformen Gott wiederum als alleiniges Subjekt des Geschehens erscheinen lassen: „Der Herr ist auferweckt worden und dem Simon erschienen“ (ἠγέρϑη ὁ ϰύριος ϰαὶ ὤφϑη Σίμωνι).

Geprägte Formulierungen zu Tod und Auferweckung Jesu liegen ferner vor in: 1Thess 4,14 („denn wenn wir glauben, dass Jesus starb und auferstand“ [ὅτι Ἰησοῦς ἀπέϑανεν ϰαὶ ἀνέστη]), 1Kor 15,12.15; 2Kor 4,14; Gal 1,1; Röm 4,24; 8,34; 10,9b („und wenn du glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat“ [ὁ ϑεὸς αὐτὸν ἤγειρεν ἐϰ νεϰρῶν]); 14,9; Kol 2,12; 1Petr 1,21; Apg 3,15; 4,10. Die soteriologische Dimension des Christusgeschehens als ‚sterben für uns‘ betont die Sterbeformel, die sich in 1Thess 5,9f; 1Kor 1,13; 8,11; 2Kor 5,14; Röm 5,6.8; 14,15; 1Petr 2,21; 3,18; 1Joh 3,16 findet 86. Die Dahingabeformel formuliert das Handeln Gottes am Sohn als Geschehen ‚für uns‘ (Gal 1,4; 2,20; Röm 4,25; 8,32; 1Tim 2,5f; Tit 2,14) 87. Bemerkenswert ist die vorpaulinische Tradition Röm 1,3b–4a, die auch als Sohnesformel bezeichnet wird 88. Hier wird Christus in seiner sarkischen Existenz als Davidssohn, in seiner pneumatischen Existenz aber als Gottessohn gesehen. Gottessohn ist er kraft seiner Auferstehung, die nach Röm 1,4a das πνεῦμα ἁγιωσύνης („Geist der Heiligkeit“), also der Geist Gottes bewirkt. Erst durch die Auferstehung wird Jesus zum Gottessohn inthronisiert, wobei die Präexistenz und Gottessohnschaft des Irdischen nicht vorausgesetzt ist. Das Wirken des Sohnes steht auch im vorpaulinischen Missionskerygma 1Thess 1,9f im Mittelpunkt 89. Die Heiden wandten sich von den Götzen ab und dem vor dem Gericht rettenden Sohn zu, „den er (Gott) von den Toten auferweckt hat“ (ὃν ἤγειρεν ἐϰ τῶν νεϰρῶν). In geprägten Formulierungen wird auch die Sendung des Sohnes beschrieben, die sich in Gal 4,4; Röm 8,3 mit der Präexistenzvorstellung (Gal 4,4: „Als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, gestellt unter das Gesetz“) verbindet.

Hymnische Texte

Hymnen sind Loblieder auf Gott/Götter (vgl. Epict, Diss I 16,20f), die in unterschiedlicher Länge und Metrik abgefasst sein können 90. Der wahrscheinlich älteste Hymnus im Neuen Testament und ein zentrales Zeugnis früher Christologie ist Phil 2,6–11, wo es über Jesus Christus heißt:

(6) ὃς ἐν μορφ картинка 15ϑεοῦ ὑπάρχων οὐχ ἁρπαγμὸν ἡγήσατο τὸ εἶναι ἴσα ϑεῷ, der, obwohl er in der Gestalt Gottes war, es nicht als einen Raub ansah, Gott gleich zu sein,
(7) ἀλλὰ ἑαυτὸν ἐϰένωσεν μορφὴν δούλου λαβών,ἐν ὁμοιώματι ἀνϑρώπων γενόμενος· ϰαὶ σχήματι εὑρεϑεὶς ὡς ἄνϑρωπος sondern sich selbst entäußerte und die Gestalt eines Knechtes annahm; Gestalt eines Knechtes annahm; und er wurde der Gestalt nach wie ein Mensch gefunden.
(8) ἐταπείνωσεν ἑαυτὸν γενόμενος ὑπήϰοος Er entäußerte sich selbst und war gehorsam
μέχρι ϑανάτου (ϑανάτου δὲ σταυροῦ). bis zum Tod (Tod am Kreuz).
(9) διὸ ϰαὶ ὁ ϑεὸς αὐτὸν ὑπερύψωσεν ϰαὶ ἐχαρίσατο αὐτῷ τὸ ὄνομα τὸ ὑπὲρ πᾶν ὄνομα, Deshalb erhöhte ihn Gott über die Maßen und gab ihm den Namen über alle Namen,
(10) ἵνα ἐν τῷ ὀνόματι Ἰησοῦ πᾶν γόνυ ϰάμψῃἐπουρανίων ϰαὶ ἐπιγείων ϰαὶ ϰαταχϑονίων damit im Namen Jesu sich beugen alle Knieim Himmel und auf Erden und unter der Erde
(11) ϰαὶ πᾶσα γλῶσσα ἐξομολογήσηται ὅτι ϰύριος Ἰησοῦς Χριστὸς εἰς δόξαν ϑεοῦ πατρός. damit jede Zunge bekenne, dass Jesus Christus der Herr ist zur Ehre Gottes, des Vaters.

Seit den Analysen von E.Lohmeyer 91gilt Phil 2,6–11 als vorpaulinische Tradition. Für Tradition sprechen die ntl. (ὑπερυψοῦν = „über die Maßen erhöhen“, ϰαταχϑόνιος = „unter der Erde“) und paulinischen (μορφή = „Gestalt“, ἁρπαγμός = „Raub“) Hapaxlegomena, die Häufung der Partizipial- und Relativkonstruktionen, der strophische Aufbau des Textes, die Unterbrechung des Gedankenganges innerhalb des Briefes und die kontextuellen Bindeglieder Phil 2,1–5.12–13. Zumeist wird V. 8c (ϑανάτου δὲ σταυροῦ = „Tod am Kreuz“) als paulinische Redaktion angesehen, denn nur das Dass, nicht aber die Art des Todes ist von Bedeutung. Die Gliederung der vorpaulinischen Texteinheit ist umstritten. E.Lohmeyer unterteilt die Tradition in sechs Strophen zu je drei Zeilen, die durch den Neueinsatz mit διό in V. 9 in zwei gleiche Teile zerfallen. Demgegenüber vertritt J.Jeremias 92eine Dreiteilung des Liedes zu je vier Zeilen (a: V. 6–7a, b: V. 7b–8, c: V. 9–11), wobei er vom Parallelismus membrorum als formgebendem Prinzip ausgeht. Alle anderen Rekonstruktionen müssen als Variationen der beiden grundlegenden Vorschläge von Lohmeyer und Jeremias betrachtet werden. Die metrisch-strophische Struktur von Phil 2,6–11 wird umstritten bleiben, deutlich ist jedoch der zweiteilige Aufbau des Textes mit V. 9 als Scharnier: V. 6–8.9.10.11. Formgeschichtlich wird der Text zumeist als ‚Hymnus‘ bezeichnet, andere Klassifizierungen sind ‚Enkomion‘ 93, ‚Epainos‘ 94oder ‚Lehrgedicht‘ 95. Religionsgeschichtlich stellt der Hymnus keine Einheit dar; während der zweite Teil (V. 9–11) durch die atl. Zitatanspielung und liturgisches Formelgut auf jüdisches Denken hinweist, enthält der erste Teil (V. 6–7) starke begriffliche Parallelen zum hellenistischen religiös-philosophischen Schrifttum 96. Seinen ‚Sitz im Leben‘ hat der Hymnus in der Gemeindeliturgie (vgl. Kol 3,16).

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