Die historische Frage nach Jesus ist ein Kind der Aufklärung 1. Für die ältere Zeit war es selbstverständlich, dass die Evangelien zuverlässige Kunde über Jesus vermitteln. Vor der Aufklärung beschränkte sich die neutestamentliche Evangelienforschung im Wesentlichen darauf, die vier Evangelien zu harmonisieren. Praktisch war die neutestamentliche Exegese eine Hilfsdisziplin der Dogmatik.
Stationen der Forschung
Erst am Ende des 18.Jh. brach die Erkenntnis auf, dass der vorösterliche Jesus und der von den Evangelien (und auch den Kirchen) verkündete Christus nicht derselbe sein könnten. Von besonderer Bedeutung in dieser Entwicklung war Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), von dem Gotthold Ephraim Lessing zwischen 1774–78 posthum sieben Fragmente veröffentlichte, ohne die Identität des Verfassers preiszugeben. Von nachhaltiger Wirkung war das 1778 publizierte 7. Fragment: „Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger“ 2. Reimarus unterscheidet hier zwischen dem Anliegen Jesu und dem seiner Jünger: Jesus war ein jüdischer politischer Messias, der ein weltliches Reich aufrichten und die Juden von der Fremdherrschaft erlösen wollte. Die Jünger standen nach der Kreuzigung vor der Vernichtung ihrer Träume, sie stahlen den Leichnam Jesu und erfanden die Botschaft von seiner Auferstehung. Für Reimarus war somit der Jesus der Geschichte mit dem Christus der Verkündigung nicht identisch; Geschichte und Dogma sind zweierlei: „allein, ich finde große Ursache, dasjenige, was die Apostel in ihren eignen Schriften vorbringen, von dem, was Jesus in seinem Leben würklich selbst ausgesprochen und gelehret hat, gänzlich abzusondern.“ 3
David Friedrich Strauss (1808–1874) veröffentlichte 1835/36 sein Aufsehen erregendes ‚Leben Jesu‘, das eine Flut von Widerlegungsversuchen hervorrief, seinem Verfasser lebenslange gesellschaftliche Ächtung bescherte, hinter dessen Grundthese von der mythischen Ausgestaltung der Jesusüberlieferung die Forschung aber nicht mehr zurück kann. „Wenn die altkirchliche Exegese von der doppelten Voraussetzung ausgieng, dass in den Evangelien erstlich Geschichte, und zwar zweitens eine übernatürliche, enthalten sei, wenn hierauf der Rationalismus die zweite dieser Voraussetzungen wegwarf, doch nur um desto fester an der ersten zu halten, dass in jenen Büchern lautere, wenngleich natürliche, Geschichte sich finde: so kann auf diesem halben Wege die Wissenschaft nicht stehen bleiben, sondern es muss auch die andere Voraussetzung fallen gelassen, und erst untersucht werden, ob und wie weit wir überhaupt in den Evangelien auf historischem Grund und Boden stehen.“ 4. Die Geschichtlichkeit Jesu wird von Strauss zu einem erheblichen Teil in den Mythos verflüchtigt, so dass die Wirklichkeit des historischen Geschehens und der damit verbundene Wahrheitsanspruch auseinanderklaffen. Strauss hoffte, die dadurch entstandene Spannung aufzulösen, indem er den Kern des christlichen Glaubens aus der Geschichte herauslöste und in eine Idee übertrug. Eine trügerische Hoffnung, denn dem scheinbar positiven Ertrag stand ein grundlegendes Defizit gegenüber: Wahrheit kann nicht auf Dauer jenseits von geschichtlicher Wirklichkeit behauptet werden.
Der projektive Charakter der Leben-Jesu-Bilder des 19.Jh. wurde in der ‚Geschichte der Leben-Jesu-Forschung‘ von Albert Schweitzer (1875–1965) aufgedeckt. Schweitzer zeigte, dass jedes der liberalen Jesusbilder genau die Persönlichkeitsstruktur aufwies, die in den Augen ihres Verfassers als höchstes anzustrebendes, ethisches Ideal galt. M.Kähler und R.Bultmann ziehen aus der Vielfalt der Jesusbilder und den exegetischen Schwierigkeiten, ein sachgemäßes Jesusbild zu entwerfen, in unterschiedlicher Weise den Schluss, allein den kerygmatischen Christus bzw. das nachösterliche Kerygma als theologisch relevant anzusehen (s.o. 2.1). M.Kähler betont, Jesus Christus sei für uns nur so fassbar, wie ihn die Evangelien schildern, nicht hingegen so, wie ihn wissenschaftliche Rekonstruktionen darstellen. Für R.Bultmann gilt es, radikal die Konsequenzen aus der Tatsache zu ziehen, dass wir Jesus nur in einem mythischen Gewand kennen und es nicht möglich sei, wirklich hinter das Kerygma zurückzukommen. Bultmann folgt Kähler in der Anschauung, der Glaube könne sich nicht an scheinbar historische Fakten binden. Historische Forschung unterliegt notwendigerweise einem ständigen Wandel, so dass sich auch die Ergebnisse verändern müssen. Für den Glauben würde das bedeuten, dass er gewissermaßen den sich ständig ändernden Ergebnissen der Exegeten angepasst werden müsste.
Eine neue Runde in der historischen Frage nach Jesus leitete 1954 Ernst Käsemann (1906–1998) ein. Er konstatiert: „Die Frage nach dem historischen Jesus ist legitim die Frage nach der Kontinuität des Evangeliums in der Diskontinuität der Zeiten und der in Variation des Kerygmas.“ 5Zwar war man weit davon entfernt, ein Leben Jesu rekonstruieren zu können, aber man erkannte, dass zwischen der Verkündigung Jesu und der frühen Gemeinde nicht so radikal getrennt werden konnte, wie Bultmann dies tat. Käsemann stellte bei seiner Rekonstruktion das sogenannte Differenzkriterium in den Mittelpunkt, wonach wir einigermaßen festen historischen Boden unter den Füßen haben, wo sich eine bestimmte Jesustradition weder aus dem Judentum noch aus dem frühen Christentum ableiten lässt. Als einflussreiche Jesusbücher aus dieser Forschungsphase sind die Werke von Günther Bornkamm (1905–1990) und Herbert Braun (1903–1991) zu nennen.
Die neuere Jesusforschung in Amerika (‚third quest‘) 6ist in sich uneinheitlich, deutlich stehen aber die Forderung nach Einbeziehung aller Quellen (außerkanonische Überlieferung, Archäologie, postulierte ‚Quellen‘ 7) und eine veränderte Wertung von Quellen (Qumran-Schriften, Nag-Hammadi-Funde mit dem Thomasevangelium) im Mittelpunkt der Diskussion 8. So gelten die Qumranfunde als ein Zeugnis für die Vielschichtigkeit des Judentums im 1.Jh. n.Chr. 9; diese Vielschichtigkeit ermöglicht es, auch Jesus von Nazareth konsequent im Rahmen des Judentums seiner Zeit zu interpretieren (z.B. G.Vermes, E.P. Sanders). Das von E.Käsemann so hoch geschätzte Differenzkriterium wird einer scharfen Kritik unterzogen, Jesus gilt als besonderer Jude innerhalb des Judentums 10. Eine radikale Neubewertung erfährt teilweise das Thomas-Evangelium, das von einigen Exegeten als ältestes Zeugnis von Jesusüberlieferungen angesehen und nicht in die Mitte des 2.Jh., sondern um 50 n.Chr. datiert wird (J.D. Crossan). Eine solche Interpretation des Thomasevangeliums führt zu einem veränderten Jesusbild, bei dem nicht mehr die futurische Eschatologie im Mittelpunkt steht. Jesus ist nicht (mehr) der Verkünder des kommenden Reiches Gottes, sondern ein gesellschaftlich unangepasster, geisterfüllter, charismatischer Weisheitslehrer und Erneuerer (M.J. Borg). Allerdings sprechen die konsequente Entkontextualisierung der Worte Jesu, die sekundäre Stilisierung überkommener Formen und die gänzliche Abkopplung von der Geschichte Israels deutlich für eine spätere Datierung des Thomasevangeliums 11.
In Teilen der nordamerikanischen Jesusforschung war und ist deutlich die Tendenz zu spüren, tatsächliche oder postulierte außerkanonische Überlieferungen in den Rang von Vor- oder Nebenformen der synoptischen und johanneischen Jesusüberlieferung zu erheben (H.Köster/J.M. Robinson 12; J.D. Crossan, B.L. Mack 13). Das Ziel solcher Konstruktion liegt zweifellos darin, die Deutungsmacht der kanonischen Evangelien zu brechen und ein alternatives Jesusbild zu etablieren. Dabei dienen häufig die Lust am Sensationellen (Jesus und die Frauen; gleichgeschlechtliche Liebe, Jesus als Prototyp alternativen Lebens, undogmatische Anfänge des Christentums), die bloße Vermutung und das unbewiesene Postulat als Stimulans für eine bewusst öffentlichkeitswirksam geführte Debatte 14. Historischer Kritik halten solche Konstruktionen nicht stand, denn weder die Existenz eines ‚geheimen Markusevangeliums‘ oder einer ‚Semeia-Quelle‘ 15lassen sich wahrscheinlich machen und das Thomasevangelium gehört in das 2.Jh.!
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