„Die Schaffung Europas, das heißt seine Einigung, ist sicher eine wichtige Sache ... Warum sollte dieser große Herd der Zivilisation, der Stärke, der Vernunft und des Fortschrittes unter seiner eigenen Asche erlöschen? Allerdings darf man auf einem solchen Gebiet nicht Träumen nachhängen, sondern muss die Dinge so sehen, wie sie sind. Welches sind die Realitäten Europas und die Eckpfeiler, auf denen man weiterbauen könnte? In Wirklichkeit sind es die Staaten ... Es ist eine Schimäre, zu glauben, man könne etwas Wirksames schaffen und dass die Völker etwas billigen, was außerhalb oder über dem Staat stehen würde ... Gewiss trifft es zu, dass, bevor man das Europa-Problem in seiner Gesamtheit behandelt hat, gewisse mehr oder weniger supranationale Einrichtungen geschaffen werden konnten. Diese Einrichtungen haben ihren technischen Wert, aber sie haben und können keine Autorität und politische Wirksamkeit besitzen ... Frankreich hält die Gewährleistung der regelmäßigen Zusammenarbeit der europäischen Staaten für wünschenswert, möglich und praktisch auf dem Gebiet der Politik, der Wirtschaft, der Kultur und der Verteidigung ... Das erfordert ein organisiertes, regelmäßiges Einvernehmen der verantwortlichen Regierungen und die Tätigkeit von den Regierungen unterstellten Spezialorganisationen auf jedem der gemeinsamen Gebiete.“
[65]Erst nach dem Rücktritt de Gaulles konnten der politischen Einigung auf den Gipfelkonferenzen der Staats- und Regierungschefs in Den Haag Ende 1969 und den Pariser Konferenzen von 1972 und 1974 wieder neue Impulse gegeben werden. Der hier begonnene Neuanfang der politischen Einigung wurde sehr behutsam vorbereitet, da auch Frankreich unter Staatspräsident Pompidou grundsätzlich an der Idee des Europas der Vaterländer festhielt. Deshalb versuchte man auch nicht die ideologischen Fragen der europäischen Einigung zu lösen, sondern die Staats- und Regierungschefs beschränkten sich unter Bekräftigung ihres „Glaubens an die politischen Zielsetzungen, die der Gemeinschaft ihren ganzen Sinn und ihre Tragweite verleihen“ [S. 75] auf die Proklamierung einer noch nicht näher definierten „Europäischen Union“ als Fernziel für die achtziger Jahre 56.
[66]Diesen Gedanken von der „Europäischen Union“ nahm die Einheitliche Europäische Akte (EEA) von 1986/1987 auf, indem sie in ihrer Präambel den Willen der Staats- und Regierungschefs der damals bereits 12 Mitgliedstaaten bekundet, die Gesamtheit der Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten in eine Europäische Union umzuwandeln. Der Einstieg in diese Europäische Union ist schließlich mit dem am 1. November 1993 in Kraft getretenen „Vertrag über die Europäische Union“ vollzogen worden. Der frühere Unionsvertrag verstand sich als „ eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas [...], in der die Entscheidungen möglichst bürgernah getroffen werden “ (ex-Art. 1 UAbs. 2 EUV).
[67]Mit dem Vertrag von Lissabon ist der politische Bereich weiter gestärkt und ausgebaut worden. Konkrete politische Aufgaben sind der EU dabei im Zusammenhang mit der Unionsbürgerschaft , der Politik für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen sowie der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspoliti k übertragen worden. Mit der Unionsbürgerschaftwurden die Rechte und Interessen der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten innerhalb der EU weiter gestärkt 57. Im Bereich der Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen geht es vor allem um die Wahrnehmung von Aufgaben durch die EU, die im gemeinsamen europäischen Interesse liegen. Dazu gehören insbesondere die Bekämpfung der organisierten Kriminalität und des Menschenhandels sowie die Strafverfolgung 58. Im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitikkommen der EU insbesondere folgende Aufgaben zu: (1) Wahrung der gemeinsamen Werte, der grundlegenden Interessen und der Unabhängigkeit der EU, (2) Stärkung der Sicherheit der EU und ihrer Mitgliedstaaten, (3) Wahrung des Weltfriedens und Stärkung der internationalen Sicherheit, (4) Förderung der internationalen Zusammenarbeit, (5) Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, (6) Aufbau einer gemeinsamen Verteidigung.
IV. Die soziale Dimension
[68]Die europäische Einigung enthält schließlich auch eine soziale Komponente. Ziel der EU ist die Sicherung des sozialen Fortschritts und die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie die Stärkung des sozialen Zusammenhalts. Die EU bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierung und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität[S. 76] zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte der Kinder (Art. 3 Abs. 3 EUV).
Die soziale Dimension ist im Laufe der Jahre immer weiter gestärkt worden. Setzte man ursprünglich auf das Wirken des Gemeinsamen Marktes, der gleichsam automatisch zu einer Angleichung der nationalen Sozialordnungen führen und damit letztendlich die soziale Identität der EU hervorbringen sollte, so wurden vor allem im Zuge der Verwirklichung des Binnenmarktes und der Schaffung der Europäischen Union die Befugnisse der EU im sozialpolitischen Bereich erheblich erweitert. Während bis dahin die Sozialpolitik weitgehend Sache der Mitgliedstaaten war, kann die EU nunmehr die sozialpolitischen Tätigkeiten in geteilter Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten wahrnehmen (Art. 4 AEUV) 59.
B. Die Methode der europäischen Einigung
[69]Die europäische Einigung wird geprägt von zwei unterschiedlich angelegten Konzeptionen der Zusammenarbeit der europäischen Staaten. Sie lassen sich durch die Begriffe Kooperationund Integrationkennzeichnen. Daneben hat sich als weitere Methode die Verstärkte Zusammenarbeitherausgebildet.
I. Kooperation der Staaten
[70]Das Wesen der Kooperation besteht darin, dass die Nationalstaaten zwar über ihre nationalen Grenzen hinweg zur Zusammenarbeit mit anderen Staaten bereit sind, dies jedoch nur unter prinzipieller Aufrechterhaltung ihrer nationalstaatlichen Souveränität. Das auf einer Kooperation beruhende Einigungsbemühen richtet sich dementsprechend nicht auf die Schaffung eines neuen Gesamtstaates, sondern beschränkt sich auf die Verbindung souveräner Staaten zu einem Staatenbund, in dem die nationalstaatlichen Strukturen erhalten bleiben (Konföderation). Dem Prinzip der Kooperation entspricht die Arbeitsweise im Rahmen des Europarats und der OECD.
II. Das Konzept der Integration
[71]Das Integrationskonzept durchbricht das traditionelle Nebeneinander von Nationalstaaten. Die überkommene Auffassung von der Unantastbarkeit und Unteilbarkeit der Souveränität der Staaten weicht der Überzeugung, dass die unvollkommene Ordnung des menschlichen und staatlichen Zusammenlebens, die eigene Unzulänglichkeit des nationalen Systems und die in der europäischen Geschichte zahlreichen Machtübergriffe eines Staates auf andere (sog. Hegemonie) nur überwunden werden können, wenn die einzelnen nationalen Souveränitäten zu einer gemeinsamen Souveränität zusammengelegt und auf höherer Ebene in einer übernationalen Gemeinschaft verschmolzen werden. Das Ergebnis dieser Operation ist die Existenz[S. 77] eines Europäischen (Bundes-)Staates, in dem unter Bewahrung der Eigenheiten der in ihm zusammengeschlossenen Nationen die Geschicke der Menschen von Gemeinschaftsgewalten gelenkt und ihre Zukunft gesichert wird (Föderation).
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