Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre
Günter Albrecht (1981): Einführung zum Thema »Konstitution sozialer Probleme«. In Joachim Matthes (Hrsg.), Lebenswelt und soziale Probleme. Verhandlungen des 20. Deutschen Soziologentages zu Bremen. Campus: Frankfurt/M.
Axel Groenemeyer (2012): Soziologie sozialer Probleme – Fragestellungen, Konzepte und theoretische Perspektiven. In Günter Albrecht & Axel Groenemeyer (Hrsg.), Handbuch Soziale Probleme, 2. Aufl., S. 17–116. VS: Wiesbaden.
Günter Hartfiel (1981): Soziale Schichtung. 2. Aufl. (Darin Kapitel 6 »Soziale Schichtung und Erziehung«, S. 133–171). Juventa: München.
1.4 |
Wozu kann man Soziologie brauchen? |
1.4.1 |
Soziologie als Missverständnis |
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem Nutzen der Soziologie für die gesellschaftliche Praxis. Unter dem noch unmittelbaren Eindruck der internationalen Studentenbewegung der späten 1960er-Jahre bemerkte die Soziologin Imogen Seger (1970, 11): »Wer in den letzten Jahren die Berichte im Fernsehen und in den Zeitungen verfolgt hat, der muss zu der Ansicht kommen, die Hauptbeschäftigung der Soziologiestudenten sei es, die Revolution inner- und außerhalb der Universitäten vorzubereiten, und die Hauptbeschäftigung ihrer Professoren sei es, sie dabei zu ermuntern.«
In der Tat hatten manche Politiker und Kommentatoren einen guten Anteil an den landläufig recht gängigen Klischees, Soziologie habe etwas mit Revolution und Sozialismus oder gar Kommunismus zu tun. Sie vermuteten einen Zusammenhang zumindest zwischen einer bestimmten soziologischen Denkweise (gemeint war vor allem die »Kritische Theorie« der sogenannten »Frankfurter Schule« der Soziologie) und radikalen jungen Leuten, die vorgeben würden, Gesellschaftswissenschaften zu studieren, in Wirklichkeit aber auf Kosten der Steuerzahler in Hörsälen und auf Straßen randalieren oder gar terroristische Gewaltakte planen und durchführen.
Dieses verallgemeinernde Vorurteil entzündete – und entzündet sich immer wieder vor allem an der Beobachtung, dass Soziologie offenbar nicht nur für jene Studentinnen und Studenten anziehend und anregend wirkt, die die Gesellschaft, in der sie leben, verstehen wollen, sondern auch für solche höchst attraktiv erscheint, die die gesellschaftlichen Ordnungen radikal in Frage stellen und auch grundsätzlich verändern möchten, für jene also, die sich in der Soziologie eine Art Revolutionswissenschaft erhoffen und die hierbei Denkmodelle bestimmter Gesellschaftstheoretiker mit politischen Aktionsprogrammen verwechseln.
Oft zählen zur letzten Gruppe vor allem jene, die »ein bisschen Soziologie studiert« haben, bald aber angesichts der Studienanforderungen von Statistik und Methodenlehre oder der Pflichtkurse über soziologische Grundbegriffe und Theorievergleiche abgeschreckt werden und der »praxisfernen« universitären Soziologie enttäuscht den Rücken kehren. Dies hindert sie jedoch nicht, unter Hinweis auf ihre soziologischen Erkenntnisse (die wohl eher den Charakter von Bekenntnissen haben), zu glauben, die Gesellschaft »in den Griff« zu bekommen und damit die Hoffnung verbinden, sie grundlegend verändern zu können, um sie so von allem Übel zu befreien. Ein bisschen Soziologie ist jedoch ebenso wie ein bisschen Wahrheit eine gefährliche Sache. Bloße Gesellschaftskritik und darauf beruhendes »politisches« Handeln ohne fundierte Information und gründliches Studium gesellschaftlich-politischer Zusammenhänge hat eine unbehagliche Nähe zum Vorurteil, zum pauschalisierenden Rundumschlag und zum irrational-eifernden Aktivismus.
Wer sich indessen auf die moderne Soziologie ernsthaft einlässt, wird sehr rasch feststellen müssen, dass sie als Ersatzreligion überhaupt nicht taugt. Soziologie »ist kein Ersatz für verlorene Identifikationen, keine begleitende Sinngebung für Handlungen, sondern schlicht Erkenntnis der Zusammenhänge in ihrem Problemfeld« (Jonas 1981, 12). Ihre empirischen und theoretischen Ergebnisse entziehen sich von ihrem Anspruch her explizit allen »schrecklichen Vereinfachungen« und lassen sich auch faktisch – z. B. im Hinblick auf geplante soziale Aktionen – nur äußerst sperrig handhaben.
So beachtlich die methodologischen und analytischen Fortschritte der Soziologie mittlerweile auch sein mögen, so vorsichtig sind seriöse Sozialwissenschaftler dennoch im Umgang mit handlungsleitenden Prognosen oder gar handlungsanweisenden Rezepten. Statt von Gewissheiten reden Soziologen heute lieber von Wahrscheinlichkeiten, wie überhaupt die meisten soziologischen Aussagen den Charakter von Wahrscheinlichkeitsaussagen haben. Dies vor allem deshalb, weil Soziologen die Erfahrung gemacht haben, dass ihre Untersuchungsgegenstände höchst dynamisch und unberechenbar sind, ja dass im gesellschaftlichen Bereich fast jede Wirkung eine oft überraschende und unvorhersehbare Gegenwirkung auslösen kann.
Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre
Imogen Seger (1970): Knaurs Buch der modernen Soziologie. (Darin Kapitel 1 »Soziologen und Soziologie«, S. 11–17). Droemer: München, Zürich.
Norbert Elias (2014): Was ist Soziologie? 12. Aufl. (Darin das Kapitel 5/4 »Gesellschaftsideale und Gesellschaftswirklichkeit«, S. 182– 188). Beltz Juventa: Weinheim, Basel.
1.4.2 |
Strukturen soziologischen Denkens und Forschens |
Trotz der vorgenannten Einschränkungen hat die Soziologie für unseren Alltag dennoch wichtige Funktionen zu erfüllen, wie wir im Folgenden sehen können. Die in diesem Zusammenhang immer wieder neu gestellten Fragen
Was ist eigentlich Soziologie?
Wozu ist Soziologie nütze?
Was kann die Soziologie leisten?
Was bietet sie uns?
lassen sich dabei allerdings nicht ganz so einfach und bündig beantworten, weil es die Soziologie im strengen Sinne eigentlich nicht gibt, sondern immer nur Soziologen verschiedener Schulen und Denkrichtungen. Abgesehen von differenten wissenschaftstheoretischen und methodologischen Zugängen kommt dann deren Verständnis von Soziologie auch in ihren jeweiligen Lehr- und Forschungsprogrammen zum Ausdruck und lässt sich systematisch etwa so strukturieren:
Soziologie als Wissenschaft vom sozialen Handeln und zwischenmenschlichen Verhalten;
Soziologie als Wissenschaft von den sozialen Institutionen und Organisationen;
Soziologie als Wissenschaft von der Gesamtgesellschaft und deren Stabilität und Wandel;
Soziologie als Wissenschaft von den Ideen über die Gesellschaft und als Ideologiekritik.
Mit diesen unterschiedlichen Perspektiven und Ansätzen werden nichts anderes als verschiedene Ebenen der recht komplizierten sozialen Wirklichkeit angesprochen. Ausgehend vom Menschen als soziales Wesen und seinen auf andere gerichteten bzw. an anderen orientierten Handlungen und Verhaltensweisen weisen diese unterschiedlichen Analysedimensionen auf soziologisch unterscheidbare Einflussgrößen und Kontexte hin, was man grafisch vereinfacht so darstellen kann:
Abb. 1: Soziologie als Sozialwissenschaft
Wenn also Soziologen versuchen, Situationen unseres Alltags zu verstehen und zu analysieren, dann versuchen sie, diese Situationen in einen größeren, überindividuellen Zusammenhang zu stellen. Indem die Soziologen das Individuum, das es – per definitionem – als isoliertes Wesen gar nicht gibt, immer als ein soziales Wesen begreifen, suchen sie nach überindividuellen Einflussgrößen und entpersonalisierten Kontextbedingungen von dessen Lebensweise.
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