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Die Gesellschaft als Erfahrungsfeld: Fallstricke des Alltagswissens und die soziologische Suche nach Ursachen |
Es gibt Kritiker der Soziologie, die behaupten, Soziologie sei die Kunst, eine Sache, die eigentlich jeder versteht, so auszudrücken, dass sie keiner mehr kapiert. Soziologie wäre damit der Missbrauch einer zu diesem Zweck erfundenen Terminologie. Dieser geläufige Vorwurf beinhaltet einen formalen und einen inhaltlichen Aspekt.
Was die formale Seite soziologischer Aussagen betrifft, so muss man auch als berufsmäßiger Soziologe zugeben, dass manche Fachvertreter durch ihren »Soziologenjargon« Sprach- und Verständnisbarrieren errichten, die in der Tat nicht geeignet sind, die Popularität des Faches zu fördern. Indem künstliche und sachlich nicht mehr vertretbare Kommunikationsschranken zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft aufgebaut werden, deren Erkenntnisse lediglich einer Handvoll »Eingeweihter« mehr oder weniger noch zugänglich sind, erscheint der eigentliche Auftrag von Wissenschaft in Frage gestellt: aufzuklären, Wissen zu vermitteln und damit auch einen Beitrag zum »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Kant) zu leisten. Dort und nur dort, wo sich Soziologen hinter einer abgehobenen Expertensprache verschanzen, erscheint dieser Vorwurf berechtigt. Allerdings ist dies nicht nur ein Problem der Soziologen: »Wissenschaftliches« Imponiergehabe lässt sich auch bei Vertretern anderer akademischer Disziplinen beobachten, die gleichfalls durch übermäßige und unnötige Strapazierung eines elitären Fachjargons ihre »besondere Kompetenz« auszuweisen trachten.Auf der anderen Seite sind jedoch wissenschaftliche Aussagen nicht beliebig vereinfachbar, so dass zugestanden werden muss, dass die Soziologie – wie jede andere Wissenschaft auch – als Handwerkszeug bestimmte Begriffe benötigt, die bestimmte Sachverhalte präziser zu erfassen und zu bezeichnen in der Lage sind als die teilweise unscharfe und »oberflächliche« Begrifflichkeit unserer Umgangssprache. Insofern kommt man auch in der Soziologie um die Einführung und Verwendung spezifischer fachlicher Begriffe nicht herum, so dass die Benutzung von bestimmten Grundbegriffen und die Anwendung einer entsprechenden soziologischen Grammatik nicht nur wissenschaftlich legitim, sondern auch sachlich geboten erscheint.
Die inhaltliche Seite des einleitend zitierten Vorwurfs wiegt schwerer. Denn in der Tat reden Soziologen oft von Dingen, von denen jeder schon etwas weiß oder zumindest zu wissen glaubt. Anders als etwa bei der Physik oder in der Medizin sind wir Menschen ja im Bereich des »Sozialen« keine unbedarften Anfänger mehr, sondern in gewissem Sinne »Amateursoziologen«, wie schon der amerikanische Sozialwissenschaftler Robert MacIver (1882–1970) bemerkte. Allein schon aufgrund unserer Biografie verfügen wir über Gesellschaftserfahrung und Alltagswissen, was einen Anspruch auf eine allgemeine soziale Kompetenz zu begründen scheint, – lange bevor die Soziologie als »Wissenschaft vom Sozialen« auf den Plan tritt.Kennzeichnend für diese Art des Alltagsverständnisses ist, dass wir für fast jede Lebenssituation nicht nur bestimmte Rezepte und Strategien zur Verfügung haben, sondern auch in der Regel ganz präzise erklären können, warum beispielsweise Frau Schmidt sich von ihrem Ehemann scheiden lässt, warum die Tina von Müllers in der Schule nicht mitkommt und die Zwillinge von nebenan immerzu streiten und die Verbote des Hausmeisters missachten.
Wie erklären die Leute im Allgemeinen solche Probleme?
Wenn wir uns selbst einmal bei derartigen Gelegenheiten beobachten und kontrollieren könnten oder anderen bei ihren Erklärungen aufmerksam und vielleicht etwas kritischer als üblich zuhörten, würden wir rasch feststellen, dass bei der Konfrontation mit Alltagsproblemen bereits gewisse Vorstellungen über deren Ursachen abgerufen werden. Persönliche Erfahrungen und übernommene Meinungen, allzu oft auch – meist unbewusste – soziale Vorurteile, spielen dabei eine wichtige Rolle. So werden wohl im Hinblick auf bestimmte Probleme in der Regel kaum sorgfältig abgewogene oder wohlüberlegte Gedanken und klare, präzise Kausalketten entwickelt, sondern eher spontane, für »richtig« und »plausibel« gehaltene Deutungen der Situation, die für uns dann »wirklich so ist«, zum Ausdruck gebracht. Die Alltagsprobleme werden von der eigenen Perspektive aus wahrgenommen und von den eigenen Werten, Normen und Überzeugungen her beurteilt. Ausgangspunkt ist jeweils das eigene, für »selbstverständlich« und »natürlich« gehaltene Bezugssystem. Die Sicht des anderen oder dessen Interpretation des Problems bleibt unberücksichtigt. Oft werden (vor-)schnell »Etiketten« verteilt und komplexere Zusammenhänge damit auf bestimmte Beziehungen zwischen Personen oder auf deren angenommene Eigenschaften reduziert. Erfahrungen, die sich solchen Zuschreibungen entziehen, werden dann meist fatalistisch als undurchschaubares Schicksal oder als in der Natur der Sache liegend begriffen.
Der Philosoph und Begründer der phänomenologischen Soziologie Alfred Schütz (1899–1959) bezeichnet unser Alltagswissen als »natürliche Einstellung«, die sich unterscheidet von der wissenschaftlichen Erkenntnis mittels eines spezifischen Erkenntnisstils: In unserer »natürlichen Einstellung« stellen wir die Wirklichkeit nicht in Frage und haben keinen Zweifel, ob die Welt und ihre »Tatsachen« anders sein könnten. Unser Alltagswissen und unser Alltagsverständnis bestimmen also, welche Zusammenhänge bei gewissen Problemfällen in unseren Gesichtskreis rücken, welche Faktoren wichtig sind. Oft wird das Denken dabei von bewertenden Kategorien und absoluten Begriffen wie »gut« und »böse«, »schuldig« oder »unschuldig«, »richtig« oder »falsch« geleitet; zudem werden unsere »Erklärungen« von den durch das Problem ausgelösten eigenen Gefühlen und Eindrücken überlagert und – eben meist unbewusst – gesteuert:
Herr Schmidt ist ja bekannt als recht aufbrausender »Alkoholiker«, die 12-jährige Tina flirtet bereits mit einem »Punker« (was offensichtlich in der Familie liegt, denn die Mutter hat ja seinerzeit auch schon »früh angefangen«), die Zwillinge von nebenan sind »schlecht erzogen« oder vielleicht hat auch der Hausmeister eine »unsoziale Einstellung«, weil er die Kinder nicht auf dem gepflegten Rasen spielen lässt. Für Frau Schmidt ist die Ehe sicher eine einzige Tortur, denn man »weiß« ja, dass Alkoholiker sehr labil sind, sich nicht beherrschen können und sich so ihr Schicksal selbst zuzuschreiben haben. Man »weiß« auch, dass bei »Frühreifen« die Triebhaftigkeit und sexuelle Aktivität im Blut steckt, was man aber durch geeignete Erziehungsmaßnahmen sicherlich in den Griff bekäme. Es ist »ganz offensichtlich«, dass die Nachbarin depressiv ist und mit der Geburt der Zwillinge total überfordert wurde. Und man kennt ja schließlich auch den übereifrigen Hausmeister, der im ganzen Viertel als Kinderschreck gilt.
Dass es sich bei diesen »Eigenschaften« um etwas handelt, das mit der »Veranlagung« der Betreffenden zu tun hat, wird hierbei oft stillschweigend vorausgesetzt. Dass es sich bei den beklagten Verhaltensweisen jedoch gar nicht so sehr um individuelle Veranlagungen handeln könnte, sondern vielleicht eher um Eigenschaften, die sich erst unter ganz bestimmten Bedingungen des Zusammenlebens entwickelt haben, – diese Möglichkeit bleibt meist außerhalb unseres gewohnten Denkhorizonts.
Oder denken wir daran, dass beispielsweise Alkoholismus weniger ein individuelles Problem ist, insofern dieses Problem ja besonders in Gesellschaften verbreitet ist, die den Alkoholkonsum als Zeichen von Männlichkeit und Lebensfreude ansehen oder auch als Seelentröster und probaten Konfliktlöser empfehlen?
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