Ferdinand de Saussure langage, langue, parole
Für die Unterscheidungen, um die es hier geht, hat der Genfer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857 – 1913) terminologische Unterscheidungen getroffen, die allgemeinen Eingang in die Sprachwissenschaft gefunden haben. Dabei griff er auf die französische Sprache zurück, die selbst schon mehrere Ausdrücke für ›Sprache‹ hat. |4◄ ►5| Um die menschliche Sprachfähigkeit zu bezeichnen, hat er den Ausdruck langage gewählt, die verschiedenen Einzelsprachen heißen langues. Die Verwendung solcher Einzelsprachen schließlich, den konkreten Gebrauch einer langue in Äußerungen, bezeichnet er als parole. Wir sprechen im Weiteren von Äußerungen als Parole-Akten.
Einzelsprachen
Die langage ist allen Menschen gemeinsam. Nur lässt sie sich als solche gar nicht konkret verwenden. Wer immer seine Sprachfähigkeit praktisch einsetzen will, muss dabei auf eine bestimmte Einzelsprache (langue) zurückgreifen. Einzelsprachen sind z.B. Deutsch, Französisch, Afrikaans, Bhili, Chinesisch, Duru, Kurdisch, Lateinisch, Maledivisch, Nanai, Persisch, Quechua, Rätoromanisch, Suyá, Thai, Usbekisch, Yupik, Zulu und so weiter und so fort. Eine naheliegende Frage ist nun, wie weit dieses »und so weiter und so fort« geht: Wie viele Sprachen gibt es in der Welt?
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2 Wie viele Sprachen gibt es?
Unerforschte und vom Aussterben bedrohte Sprachen
Erstaunlicherweise gibt es auf diese Frage keine eindeutige Antwort: Während man früher oft mit Angaben um 3.000 – 4.000 operierte, kann man in neueren Bestandsaufnahmen Zahlen zwischen 6.000 und 15.000 finden. Wie kommt es zu diesen unterschiedlichen Zahlen? Es lassen sich dafür mindestens zwei Gründe anführen:
1.Von den vielen Sprachen dieser Welt (es handelt sich auf jeden Fall um mehrere Tausend) sind längst nicht alle gleich gut beschrieben, und es sind auch nicht alle Regionen dieser Welt gleich gut auf die in ihnen benutzten Sprachen hin erforscht. Manche Regionen bilden daher einfach noch relativ weiße Flecken auf der Landkarte, und es ist nicht (genau) bekannt, wie viele und welche Sprachen es dort gibt.
Dass es noch weiße Flecken auf der Landkarte gibt, wäre übrigens nicht weiter schlimm, wenn die Sprachwissenschaft noch alle Zeit der Welt hätte, sämtliche Sprachen nach und nach zu erforschen. In letzter Zeit wird man sich jedoch zunehmend bewusst, dass diese Möglichkeit vielleicht nicht gegeben ist – viele Sprachen sind vom Aussterben bedroht. Im 21. Jahrhundert wird wahrscheinlich mehr als die Hälfte der derzeit noch gesprochenen Sprachen verschwinden. Das hängt damit zusammen, dass nicht einmal ein Fünftel aller Sprachen von mindestens 100.000 Menschen benutzt wird; bei fast einem Drittel hat man |5◄ ►6| weniger als 1.000 Sprecher gezählt. – Es gibt in der Zwischenzeit zwar auch eine stärker werdende Gegenbewegung und diverse Gesellschaften zur Rettung bedrohter Sprachen. 2Dazu bedarf es allerdings eines ausgeprägten Bewahrungswillens der betroffenen Sprecher, der z.B. bei den Friesen und Sorben und überhaupt im europäischen Raum durchaus gegeben ist, kaum aber für die vielen (nicht verschrifteten) Kleinstsprachen in Afrika, Asien und Australien.
Grenzen zwischen Einzelsprachen
2. Der zweite Grund ist fundamentalerer Natur und lässt sich (im Gegensatz zum ersten) nicht einmal prinzipiell aus der Welt schaffen – er führt uns direkt auf grundlegende Probleme der Sprachwissenschaft. Diese lassen sich vorerst in folgender Feststellung fassen: Es ist gar nicht so einfach anzugeben, was genau eine Einzelsprache ist und wo ihre Grenzen zu anderen Einzelsprachen sind. – Warum ist dies so?
Wir hatten oben festgestellt, dass man langage nicht als solche anwenden kann, sondern immer eine Einzelsprache benutzen muss. Tatsächlich sind jedoch auch diese Einzelsprachen keine konkreten Objekte, die unmittelbar als solche gegeben wären und die man direkt beobachten könnte. Das einzige unmittelbar beobachtbare – sicht- bzw. hörbare – sprachliche Phänomen sind vielmehr die konkreten Einzelfälle des Sprachgebrauchs, die mündlichen oder schriftlichen Äußerungen, die Sprecher produzieren, also Parole-Akte.
Normalerweise nimmt man nun natürlich an, dass Parole-Akte produziert werden, indem Menschen auf ihre Kenntnis einer bestimmten Einzelsprache zurückgreifen. Mitunter stellt sich die Frage, um welche Einzelsprache es sich bei bestimmten Parole-Akten handelt. Unproblematisch scheint dies zu sein, wenn man die Sprache kennt, schwieriger dagegen, wenn man sie eben nicht kennt. Denn wer eine Äußerung produziert, sagt ja im Allgemeinen nicht dazu, welche Einzelsprache er gerade benutzt. Das Problem der Identifizierung von Einzelsprachen stellt sich jedoch in Wirklichkeit nicht nur für uns unbekannte Sprachen, sondern kann auch bei Sprachen auftreten, die uns weitgehend geläufig sind. Dies sei ausgehend von einem – authentischen – Parole-Akt demonstriert (Textbeispiel 1). Es handelt sich um den Ausschnitt eines Gesprächs zwischen Frau A und Frau B, das 1994 geführt wurde.
Sprachmischung Mischsprachen
Welche Sprache spricht Frau B? Sie selbst scheint zu meinen, es handle sich um Deutsch (Daitsch), und es ist ja auch mindestens eine Art Deutsch, jedenfalls ähnelt vieles dem Deutschen; anderes lässt dagegen eher an Englisch denken, das in dem Gespräch ja auch erwähnt wird. Möglich wären nun (mindestens) folgende Lösungen: |6◄ ►7|
Textbeispiel 1: was host-n gsaat, ’s kann-s net versteh, see
A: |
No erzählt mol, was ihr hait alles gschafft hett. |
B: |
No erscht hun ich me-n appointment gemacht bei-m doctor un sain ‘nuf un hun mei flue shot geholt, hait morjent, des war s erschte Ding. No, norde sein ich in store gange un hun gschopt, bisje esse, bisje candy for Hallowe’en. No sain ich haam komme un hun bisje Midach gesse, un nore hun ich platzkorn geplatzt. Un des war alles, so weit. |
A: |
Seid ihr wohl zu Fuß gange? |
B: |
Naa, ich hun die car gfahr, naa, ich fahr car, des’ ganz upstairs, nuf in town, des’ zu weit vor laawe, do mus ich fahre. |
A: |
Wie lang bleibt es jetz dou? |
B: |
Bis finewe, bissai mame kommt von hospital’s, die schafft in hospital’s, see, so do pickt sie ihn nore uf. |
A: |
So ich komm ivemorje zu aich |
B: |
Des wär de mitwoch, ja wann ever, des macht mir niks aus, vormidags sain ich imer dou. Do werscht du in town bei Midach oder sou. Well, ach nachmidach iz all right, kolsd mich erscht for sure mache. Mei grandchild kommt jo net haam bis drai Uhr, jetz kommt-s grad reigelowwe, dou is es jo, des’ mei grand ... wie saacht me des, mei Engelje, ha? ‘S kann net Daitsch, wenn ich als emol bisje Daitsch sag, no saad-r »Grand-mother, was host-n gsaat?« in English, know, she ask: was host-n gsaat, ‘s kann-s net versteh, see. |
– Frau B spricht eine besondere Sprache. Diese ist aus einer Mischung einer speziellen, vielleicht älteren Variante des Deutschen mit dem Englischen hervorgegangen.
– Frau B benutzt zwei Einzelsprachen: Sie wechselt in ihrem Parole-Akt zwischen dem Gebrauch einer Variante des Deutschen (oder einer dem Deutschen eng verwandten Sprache) und dem Englischen ab.
Die beiden Lösungsmöglichkeiten (die richtige findet sich im Anhang) machen nun schon deutlich, warum es so schwierig ist, genau zu bestimmen, was eine Einzelsprache ist, und warum es dementsprechend auch nicht möglich ist, genaue Angaben über die Menge der existierenden Einzelsprachen zu machen.
Varietäten
Einzelsprachen treten in verschiedenen Unterarten auf. Man spricht hier von Varietäten (auch: Lekten, aus Dia-lekt). Die Frage ist: Was berechtigt uns, verschiedene Varietäten als solche einer Sprache zu behandeln? Gibt es z.B. die Sprache Rätoromanisch, d.h. ist es berechtigt, Sursilvan, Vallader usw. als eine Sprache zusammenzufassen? Wann liegen noch Varietäten einer Einzelsprache vor, ab wann muss oder kann man von mehreren eigenständigen Sprachen reden? Ist z.B. Amerikanisch eine eigene Sprache oder eine Varietät des Englischen?
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