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so immer mehr Land in immer weniger Hände. Die enclosures erreichten ihren Höhepunkt bereits im frühen 18. Jahrhundert und waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts praktisch abgeschlossen, als es kaum noch Land zu verteilen gab.
Einerseits führte diese Entwicklung zu Leid und Armut unter Pächtern und Landarbeitern, die nicht mehr weiter auf ihrem angestammten Land tätig sein konnten. Viele wurden von unabhängig wirtschaftenden Pächtern zu abhängigen Landarbeitern unter der Kontrolle der Großgrundbesitzer. Andererseits verbesserte dieser Konzentrationsprozess die landwirtschaftliche Produktivität beträchtlich, denn viele der neuen Erkenntnisse und Erfindungen ließen sich besonders effektiv auf großen Flächen anwenden. Außerdem bemühten sich die Großgrundbesitzer um eine produktive Bewirtschaftung, allein schon um die Kosten der enclosures wieder hereinholen zu können. Diese Periode, die durch eine Proletarisierung weiter Teile der Landbevölkerung gekennzeichnet war, veränderte die englische Landschaft nachhaltig. Farmen waren wohlgeordnet, mit geraden Zäunen, Hecken und Steinmauern versehen und arbeiteten wirtschaftlich möglichst effizient.
Das Zusammenwirken von wirkungsvollen Saat- und Bewässerungstechniken, modernen Gerätschaften, Fortschritten in der Viehzucht und Einfriedungen führte zu demografischen Veränderungen, die die Grundvoraussetzung der späteren Industrialisierung waren. Zwischen dem frühen 17. Jahrhundert und der Mitte des 18. Jahrhunderts kam es zu bedeutenden Veränderungen nicht nur in der Größe, sondern auch der Zusammensetzung der britischen Bevölkerung. Interessanterweise war nicht eine Verringerung der ländlichen Bevölkerung zu beobachten, deren Gesamtzahl etwa konstant blieb, sondern eine Umschichtung der ländlichen Sozial- und Arbeitsverhältnisse. Selbst in der Zeit vor der „klassischen“ landwirtschaftlichen Revolution, als viele Neuerungen noch nicht richtig griffen, war dieser Umbruch bereits in vollem Gange. Laut einer Erhebung aus dem Jahr 1688 waren zu diesem Zeitpunkt etwa drei Fünftel der Familien – diese war die Untersuchungseinheit – direkt mit Landarbeit beschäftigt, also in Ackerbau und Viehwirtschaft. Um 1760, dem Datum einer weiteren, ähnlichen Untersuchung, war es lediglich die Hälfte aller Familien. Da sich die
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Anzahl der Landbewohner insgesamt nicht verringert hatte, kann dies nur bedeuten, dass zahlreiche Menschen anderen Erwerbstätigkeiten nachgingen. Eine nicht geringe Zahl hatte Arbeit im tertiären Sektor gefunden. Wirte, Straßenzöllner, Verwalter, Hausangestellte und andere Dienstleistungsberufe verbesserten die ländliche Infrastruktur. Die große Masse der Freigesetzten aber verdingte sich protoindustriell. Die ländlichen „Industrien“ waren keine Fabriken im Sinn der späteren Hochindustrialisierung, sondern eher industrialisierte Handwerksbetriebe. Die Garn- und Stoffproduktion und metallverarbeitende Kleinbetriebe, in denen etwa Werkzeuge, Nägel oder Kochgeschirr hergestellt wurden, waren hier stark vertreten. Oftmals produzierten Familien, eventuell erweitert um einige Angestellte, zusammen in solch wenig mechanisierten und kaum arbeitsteilig operierenden Betrieben. In vielen bäuerlichen Haushalten dienten diese so genannten cottage industries, die aus dem eigenen Haus heraus betrieben werden konnten, zunächst als Nebenerwerb und entwickelten sich später zur Haupteinkommensquelle der Familie.
Durch diese Entwicklungen wandelte sich auch die gesellschaftliche und wirtschaftliche Rolle der Frau. Noch im frühen 18. Jahrhundert waren Frauen ganz selbstverständlich in den Arbeitsalltag auf dem Land (wo die große Mehrheit der Menschen lebte) integriert gewesen und hatten entweder die gleichen oder zumindest ähnliche Tätigkeiten wie Männer ausgeführt. Als aber die Landwirtschaft weniger arbeitsintensiv und stärker mechanisiert wurde und als durch die Bevölkerungsvermehrung immer mehr Arbeitskräfte zur Verfügung standen, waren Frauen die erste Gruppe, die aus diesem Sektor herausgedrängt wurde. Die maschinellen Saat- und Ernteverfahren wurden von Männern betrieben; auch für einfache Tätigkeiten wurden Männer bevorzugt, da sie bei gleichem Lohn körperlich schwerer arbeiten konnten als Frauen. Viele Frauen zogen sich daher stärker in den häuslichen Bereich zurück. Wenn sie weiter erwerbstätig blieben, dann häufiger als Männer in der cottage industry. Die zunehmende Separation männlicher und weiblicher Arbeitssphären war die erste von vielen Veränderungen im Geschlechterverhältnis, die die „Revolutionen“ des 18. und 19. Jahrhunderts mit sich brachten.
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1.5
Demografie
Diese ländliche Industrialisierung war einerseits möglich, weil immer weniger Menschen benötigt wurden, um ausreichend Nahrungsmittel anzubauen oder herzustellen. Andererseits ergab sie sich aus dem Zwang, alternative Erwerbsquellen für die durch technische Verbesserungen zunehmend aus der Landwirtschaft verdrängten Arbeitskräfte zu finden. Ohne diese Freisetzung von Arbeitskräften wäre die spätere Hochindustrialisierung nicht denkbar gewesen. Im 18. Jahrhundert erlebte Großbritannien zudem einen fundamentalen demografischen Wandel. Erstmals war hier das eingangs genannte Malthus’sche Prinzip des zyklischen Bevölkerungswachstums durchbrochen und durch einen linearen Anstieg ersetzt worden, wie die nachfolgende Tabelle zeigt.
Jahr |
Bevölkerung in Mio. |
Jahre pro Bevölkerungszunahme um 1 Mio. |
1695 |
5 |
- |
1757 |
6 |
62 |
1781 |
7 |
24 |
1794 |
8 |
13 |
1804 |
9 |
10 |
Bevölkerungswachstum in Großbritannien (England, Schottland, Wales)
Die Beschleunigung des Bevölkerungswachstums hing mit der landwirtschaftlichen Revolution zusammen, hatte aber darüber hinaus noch andere Ursachen. Die Fortschritte im Agrarsektor hatten zwar nicht für eine uniforme Verbesserung der Erträge gesorgt, aber in vielen Gegenden des Landes deutlich mehr und vor allem regelmäßig Feldfrüchte zur Verfügung gestellt. Wenn in weniger weit entwickelten Regionen die Ernte aus natürlichen Gründen schlechter ausfiel, konnten andere Regionen diesen Produktionsausfall nun meist kompensieren. Großflächige Missernten traten immer seltener auf, weil die innovativen Methoden mehr als nur Subsistenzwirtschaft erlaubten. Der Anteil von Erträgen, die nicht für den Eigenbedarf angebaut wurden, stieg ständig, was unter anderem eine weniger einseitige und damit gesündere Ernährung der Menschen
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zur Folge hatte. Auch die Preise für Nahrungsmittel lagen zunehmend auf einem stabilen und relativ niedrigen Niveau.
Weitere Faktoren hatten die Bevölkerung bis ins 18. Jahrhundert nur moderat ansteigen lassen. Dazu gehörten eine sehr hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit und die Tatsache, dass Paare durchschnittlich erst mit Mitte Zwanzig heirateten. Außereheliche Beziehungen waren stark tabuisiert, und angesichts fehlender effektiver Methoden der Empfängnisverhütung war eine späte Heirat die einzige Möglichkeit der Geburtenkontrolle. Selbst wenn Frauen rund 15 Jahre fruchtbar blieben, konnte ein englisches Ehepaar im frühen 18. Jahrhundert nur mit durchschnittlich drei überlebenden Kindern rechnen. Hungersnöte und Seuchen sorgten dafür, dass auch das daraus resultierende Bevölkerungswachstum zyklisch wieder unterbrochen wurde. Dies begann sich erst zu ändern, als die Menschen früher heirateten und mehr Kinder bekamen, was ursächlich damit zusammenhing, dass sich die Aussichten verbesserten, den Nachwuchs ernähren zu können. Die Protoindustrialisierung auf dem Land gestattete einer wachsenden Zahl junger Leute den Aufbau einer unabhängigen Existenz, während zuvor viele Landarbeiter unverheiratet geblieben waren, da sie als abhängige Lohnarbeiter auf kleinen Farmen nicht genug verdienten und keinen Platz hatten, um Familien zu gründen. Wer in Heimarbeit oder protoindustriellen workshops tätig war, konnte sich eher ein Auskommen erarbeiten, das wenigstens für eine eigene Hütte reichte. Zusätzlich ließ ein verändertes Moralverhalten die Zahl außerehelich gezeugter Kinder ansteigen.
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