Flusser hat in seiner Medientheorie das bestehende Ungleichgewicht der Kommunikationsmodi in der Moderne beschrieben und ein Ende des Primats textbasierter Diskurskommunikation beschworen. Eine „Kommunikationsrevolution“ der Menschen sei erforderlich, so meinte er, ein „Abschirmen des Interesses der Menschheit gegen die sie programmierenden Diskurse“ (ebenda, S.47). Alphabetisierung der Moderne, Entwicklung des Buchdrucks, das Entstehen linearer Geschichtsschreibungen und der großen ideologischen Narrationen, inklusive moderner Nationalstaatsideen und moderner Kriege, sind bei Flusser aufs engste verbunden (ebenda, S.56). Die Bevölkerung wird in diesem Prozess zur „Masse“, die Lebenswelt wird kolonisiert. Man mag Flussers Sprache pathetisch und seine Betonung des repressiven Charakters der Mediendiskurse angesichts der von ihm selbst ja konstatierten Unverzichtbarkeit von Dialog und Diskurs (ebenda, S.16) widersprüchlich finden. Der Dualismus von diskursiver und dialogischer Kommunikation als Grundlage einer sozialen Kommunikationstheorie aber lässt sich in den Arbeiten zahlreicher Autoren erkennen.
Weiterführend ist Michael Giesecke sicher einer der interessantesten Autoren, die sich mit Fragen von Medien, Dialogen, Kommunikationsprozessen und Vergemeinschaftung beschäftigt haben. Gieseckes Denken ist grundlegend im Konzept der Kommunikationsökologie als dem Zusammenwirken artverschiedener Kommunikationsformen verankert (2002). Menschliche Kommunikation basiert auf durch Medien ermöglichtem Beobachten ebenso wie auf direktem lebensweltlichen Interagieren. Störungen und Pathologien entstehen aus Disbalancen, die das Zusammenwirken der verschiedenen Kommunikationstypen aus den Fugen geraten lassen (ebenda, S.35): bekannt sind hier seine „Mythen der Buchkultur“. Giesecke beschreibt die moderne Kultur des Westens und der Aufklärung als zu text- und beobachtungszentriert. Sein Beispiel: Hätte sich Kolumbus auf den herrschenden Diskurs seiner Zeit verlassen, hätte er sich nie auf die Suche nach neuen Welten gemacht. Erst die direkte Beobachtung – an den Küsten angeschwemmte Funde von toten nordamerikanischen Ureinwohnern oder Bambusstämmen – und die Interaktion mit Gleichgesinnten ermutigten ihn zu seinen Abenteuern (ebenda, S.114ff.).
Gerade das Internet betrachtet Giesecke als Chance für eine neue Vision der Informationsgesellschaft, die die kommunikationsökologische Balance, die durch monologische Buch- und Pressekulturen zerstört wurde, wiederherstellen kann. Dabei geht es nicht nur um eine Wiederbelebung des interpersonalen Dialogs, sondern vor allem um die Revitalisierung des Gruppen- und Mehrpersonengesprächs. Fraglich bleibt allerdings, wenn man den Hinweis von Giesecke weiterdenkt, welche theoretische Stellung man dem Gruppengespräch vor dem Hintergrund der Dichotomie von Diskurs und Dialog einräumen sollte: Steht es eher auf der Seite der „repressiven“ Verteilung medialen Wissens, indem es Medienagenden und -diskurse weitervermittelt; oder dient es der kreativen Aneignung und interaktiv-dialogischen Sinndeutung?
Interessant ist an Giesecke besonders, dass er die interkulturelle Fernbeziehung in seine Analyse einbezieht (2002, S.145ff.). Er bestätigt, dass bei interkultureller Kommunikation seit Jahrhunderten der Kommunikationsmodus der medialen Beobachtung dominiert hat, das Schreiben über und die Visualisierung von statt der Interaktion mit „Fremden“. Beobachtung statt dialogischem Austausch war ja auch der vorherrschende Modus des Kolonialzeitalters, das bis heute nachwirkt. Nach Giesecke haben wir in der Aufklärung eine Kultur der Neugierde, aber ohne echten Dialog, etabliert. Den Dialog bezeichnet er hingegen als Medium, um das „Gemeinsame der Menschheit“ hervorzubringen, und die neuen digitalen Medien erscheinen ihm als probates Heilmittel, auch wenn er hinzufügt: „Was immer mit dem globalen Dorf gemeint sein mag, es baut sich nicht allein auf dem Internet auf. Wir sind nicht nur durch Kabel, sondern auch durch andere Medien verbunden. Das ‚globale Dorfʻ bedarf unterschiedlicher Interaktions-, Kooperations- und Kommunikationsmedien, wenn es zusammenhalten und funktionieren soll“ (ebenda, S.376).
Integrationistische Systemtheorien
Literatur, die sich speziell mit der Frage der internationalen Kommunikation und Vergemeinschaftung beschäftigt, gibt es vergleichsweise wenig. Einige Pioniere haben jedoch die Auswirkungen von globaler Interaktion auf weltweite Vergemeinschaftung untersucht. Hier sind vor allem Autoren zu nennen, die Howard Frederick unter dem Label der „integrationistischen Systemtheoretiker“ zusammenfasst, wie etwa Karl W. Deutsch, Claudio Cioffi-Revilla, Richard L. Merritt, Francis A. Beer, Philip E. Jacob oder James V. Toscano (1993, S.202ff.). Das Credo dieser Arbeiten, die zum Teil schon in den 1960er Jahren entstanden, ist genau die oben mit dem Orchesterbild angedeutete Dynamik. Die internationale Integrationstheorie misst vor allem den Umfang von Interaktionen zwischen Einheiten wie Staaten und setzt diesen in Beziehung zum innergesellschaftlichen Kommunikationsaufkommen. Als empirische Basis dienen in diesen frühen Arbeiten üblicherweise der Brief- und Telefonkontakt, aber auch Daten des kulturellen Austausches etwa bei universitären Auslandsstudien. Die Hypothesen dieser sehr quantitativ orientierten Forschung sind Variationen der Grundannahme, dass nur eine interaktive und nicht nur koorientierte und beobachtende Welt ein stabiles Gerüst für eine Weltgemeinschaft sein könne. Karl W. Deutsch argumentiert, dass die Abwesenheit von Kommunikation zwischen Staaten zwar nicht notwendig zu Konflikten führen müsse, dass aber die Möglichkeiten der sozialen Kommunikation mit den Erfordernissen politischer, ökonomischer und sozialer Transaktionen auf anderen Feldern mithalten müssen (1970, S.58).
Mit anderen Worten: Ein Mangel an grenzüberschreitender Interaktion muss nicht zu Konflikten führen (vgl. a. Beer 1981, S.133, Rosecrance 1973, S.136ff.), aber eine Integration zu größeren Gemeinschaften etwa im Rahmen der Europäischen Union oder anderer internationaler Sicherheitsgemeinschaften hält er in einem solchen Zustand der Interaktionslosigkeit für undenkbar. Deutsch betont mit Nachdruck, dass eine Akzeptanz der politischen oder wirtschaftlichen Integration gleich welcher Art nur dann erfolgen könne, wenn Menschen diese Integration auch selbst erleben; nur so könne ein Wir-Gefühl ( we-feeling ) entstehen (1970, S.36). Er unterstreicht, dass solche Erfahrungen sowohl für politische Eliten als auch für die Gesellschaft an sich von Bedeutung seien ( favorite societal climate , 1964a, S.51). Integrationstheoretiker betonen den Zusammenhang zwischen dem durch Medien vermittelten Image eines anderen Landes und menschlichen Beziehungen zwischen den Ländern, die sich durch Interaktionen wie Brief- und Telefonaustausch – heute würde man das Internet und andere Reisetätigkeiten hinzurechnen – ergeben (ebenda, S.54, 1964b, S.75ff.).
Dass die Angleichung internationaler politischer und ökonomischer Beziehungen einerseits und sozialer Interaktionen andererseits eine Wunschvorstellung ist, die nicht immer mit der Realität einhergeht, sondern, mit eigenen Worten ausgedrückt, „tektonische Verschiebungen“ zwischen den Beziehungsebenen die Regel sind (Hafez 1999, S.54ff.), haben die integrationistischen Systemtheoretiker dabei sehr frühzeitig erkannt: „Human relations are […] far more nationally bounded than movements of goods“ (Deutsch 1964b, S.84). Sezessionen wie die zwischen Großbritannien und den USA im 18.Jahrhundert etwa ließen sich auch auf Basis der kommunikativen Verbindungen nachvollziehen: zunächst war der Postverkehr zwischen England und den Kolonien ausgeprägter. Einige Jahrzehnte später jedoch hatte sich das Bild verändert, die Kolonien kommunizierten stärker miteinander, die sozialen Kontakte zu Britannien wurden immer spärlicher, wenig später brach der Unabhängigkeitskrieg aus (Deutsch 1964a, S.51). Die integrationistischen Systemtheoretiker konnten zudem nachweisen, dass der nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte multinationale Zusammenschluss europäischer Staaten den Briefverkehr und andere Interaktionen zwischen den Staaten verstärkte, was wiederum die europäische Idee in der Mitte der Gesellschaften ankommen ließ und den Eliten eine immer stärkere Integration ermöglichte (Clark/Merritt 1987, S.230ff.). Bis in die Gegenwart ist trotz der gewachsenen Kritik an der Europäischen Union und neonationalistischen Bewegungen wie dem Rechtspopulismus die europäische Idee selbst in Europa mehrheitsfähig. Hypothetisch könnte man fragen, ob mögliche Absatzbewegungen von der EU nicht auch damit erklärt werden können, dass gerade zwischen bestimmten Räumen (Nord- und Südeuropa oder Ost- und Westeuropa) eben noch immer zu wenig grenzüberschreitend kommuniziert wird – von dem Fehlen einer gemeinsamen europäischen Medienöffentlichkeit einmal ganz abgesehen.
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