1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 1. Anamnese
2. Freie Spiel- und/oder Gesprächssituation
3. Spontansprachanalyse
4. Einsatz standardisierter/informeller Prüfverfahren zur Einschätzung des (nicht) sprachlichen Entwicklungsstandes sowie Analyse der Eltern-Kind-Interaktion
5. Zusammenfassung der Ergebnisse im logopädischen Befund (Flossmann/ Tockuss 1994, 4; Schrey-Dern 2006, 22)
In Analogie dazu formuliert auch der Deutsche Bundesverband für Logopädie e.V. (dbl) in seinem „Logopädischen Diagnostikstandard bei Kindern (logopädisches Störungsbild in einem oder mehreren Bereichen)“ folgenden Algorithmus:
„Verordnung durch den Kinderarzt und Klärung der spezifischen Fragestellung (z.B. Stottern, Heiserkeit, schlecht zu verstehende Sprache, Ernährung ...) ergibt einen Verdacht auf ein logopädisches Störungsbild
→ Anamnese mit Bezugspersonen/Eltern, ggf. sozialem Umfeld, Kindergarten, Schule. Das Gespräch baut auf den bereits vorliegenden Befunden auf Beobachtungen im Kontakt mit dem Patienten
→ Klinische Beobachtungen des Kindes (in einer natürlichen, lautsprachanregenden Spielsituation); Analyse der Spontansprache unter Berücksichtigung der jeweiligen Fragestellung
→ Bei entsprechender Indikation folgt eine störungsspezifische Diagnostik in einem oder mehreren Bereichen mit standardisierten und/oder informellen Prüfverfahren
→Nach Abschluss der logopädischen Befunderhebung inkl. Auswertung der Ergebnisse folgen:
■ Dokumentation der Befundergebnisse
■ ggf. Aufstellung einer logopädischen Diagnose
■ Rückmeldung der logopädischen Diagnose an den verordnenden (behandelnden) Arzt bzw. weitere Berufsgruppen
■ ggf. Aufklärungs- bzw. Beratungsgespräch mit den Bezugspersonen/Eltern
■ Klärung des weiteren Procedere (z.B. Therapieindikation, weitere interdisziplinäre Diagnostik etc.)“ (dbl 2014, 1).
Die konkrete Umsetzung dessen ist jedoch häufig abhängig von den gegebenen Rahmenbedingungen, z.B.:
■ Liegen bereits Befunde/Gutachten vor und besteht eine entsprechende Schweigepflichtsentbindung für die diagnostizierende Person?
■ Welche Unterlagen liegen bereits vor dem ersten Anamnesegespräch vor bzw. sind erst noch einzuholen?
■ In welcher Form ist es möglich, mit anderen Kooperationspartnern Rücksprache zu halten (SPZ, Ergotherapie, etc.)?
■ Welcher Zeitraum steht für diagnostische Fragen zur Verfügung?
■ Welche diagnostischen Materialien sind der diagnostizierenden Person zugänglich und inwiefern ist sie mit den Materialien vertraut?
In einer multizentrischen Studie, in der die sprachtherapeutische Dokumentation von 502 Kindern retrospektiv analysiert wurde, konnten de Langen-Müller/ Hielscher-Fastabend (2007) Daten zur Diagnostik im Rahmen der Sprachtherapie vorlegen (die Informationen beziehen sich auf Kinder von 0 bis 16 Jahren und auf einen Behandlungsbeginn zwischen 2000 und 2005). So verwendeten die Sprachtherapeuten durchschnittlich 3,45 Behandlungseinheiten für ihre Diagnosestellung (SD=2,53). Die hohe Variation der Dauer (0,5 Einheiten bis zu 17 Einheiten je Kind) wurde über die spezifische therapiebegleitende Diagnostik begründet. 43,4 % aller Kinder wurden mit einer oder zwei Einheiten diagnostiziert. Nach den Diagnosekategorien aufgeschlüsselt zeigt sich, dass eher weniger Sitzungen bei leichten Aussprachestörungen (in Verbindung mit myofunktionellen Störungen) oder Redeflussstörungen verwendet werden (de Langen-Müller/ Hielscher-Fastabend 2007). Die verwendeten Methoden decken die Bandbreite des Möglichen ab und reichen von Tests über standardisierte Screenings bis hin zu informellen Beobachtungen. Für die Eingangsdiagnostik werden bei 44,4 % der Kinder häufig zwei unterschiedliche Quellen verwendet, häufig auch noch mehr. Natürlich muss man darauf hinweisen, dass die Quantität der eingesetzten Methoden/Verfahren kein Qualitätsmerkmal per se ist, sondern Methoden je nach Datenlage hypothesengeleitet ausgewählt werden sollten.
2.4 Ethische und rechtliche Aspekte
Das diagnostische Handeln ist an grundlegende ethische Prinzipien und im Kontext der jeweiligen Aufgabenstellung und der betreffenden Berufsgruppe(n) an rechtliche Rahmenbedingungen gebunden.
Ethik der Diagnostik
Jegliches pädagogisches Handeln hat auf der Basis ethischer Grundsätze zu erfolgen – dies gilt auch für das Handlungsfeld der sprachheilpädagogischen/sprachtherapeutischen Diagnostik (Lüdtke/Stitzinger 2015). Die Autoren sehen in Deutschland hinsichtlich einer expliziten ethischen Grundlegung unseres Faches jedoch „noch viel Handlungsbedarf“ (Lüdtke/Stitzinger 2015, 78) und verweisen auf den „Code of Ethics“ der American Speech-Language-Hearing Association (ASHA 2016) als Instrument zur Selbstreflexion der Speech Language Pathologists.
In einer der wenigen deutschsprachigen Publikationen zu diesem Thema formuliert Schulz (2011, 148f.) ethische Aspekte der sprachtherapeutischen Diagnostik und mögliche ethisch-moralische Konflikte:
1. Beachtung des Unterschieds zwischen der „alltäglichen Diagnostik“, dem gegenseitigen Einschätzen von Menschen anhand weniger beobachtbarer Merkmale und einer „wissenschaftlichen Diagnose“, die einen Objektivitätsanspruch erhebt
2. Die durch sprachtherapeutische Experten präsentierten Diagnosen werden für wahr und wichtig gehalten (Schulz 2011, 148). Die testtheoretischen Hintergründe eingesetzter Verfahren (sowie die theorieimmanenten Hintergrundannahmen zur Konstruktion der Verfahren) bleiben dabei aber häufig ebenso wenig reflektiert wie das Verhältnis zwischen Diagnostizierten und Diagnostizierenden.
3. Der Normwert als Vergleichsmaßstab in Diagnostikverfahren dokumentiert für das jeweilige Kind die Abweichung von der Vergleichsgruppe (i.d.R. die Gruppe der Gleichaltrigen) in einem Fähigkeitsbereich. „Hier schleicht sich unter dem Deckmantel vermeintlich deskriptiver, statistisch-quantitativer Objektivität das Normative, das Präskriptive, Werthafte unbemerkt ein“ (Schulz 2011, 149).
„Die Therapeutin nimmt die Diagnostik und die daraus folgende Diagnose als eine ethisch relevante Situation wahr, in der verschiedene Interessen und Normen aufeinanderstoßen. Weil sie über genügend reflektiertes Wissen (Fachkompetenz) bezüglich der Diagnoseverfahren verfügt, kann sie den Nutzen gegen die Problematiken abwägen“ (Schulz 2011, 150).
Rechtliche Grundlagen der Diagnostik
Die Intervention – beispielsweise bei Kindern mit Sprachstörungen – findet aktuell in unterschiedlichen Systemen statt: dem Bildungssystem, dem Gesundheitssystem und im Rahmen von Komplexleistungen nach den Sozialgesetzbüchern SGB IX (neu)/Bundesteilhabegesetz (BTHG) und SGB XII (Sallat/Siegmüller 2016). Die ärztliche Diagnostik bei Stimm-, Sprech-, Sprach- und Schluckstörungen und somit die Voraussetzung für das Erbringen des Heilmittels Sprachtherapie ist in der Heilmittel-Richtlinie (HeilM-RL) (GBA 2011b) geregelt.
Das diagnostische Handeln geschieht stets im jeweiligen rechtlichen Rahmen. So regelt die Gesetzgebung eines jeden Bundeslandes beispielsweise, ob und in welcher Form eine sprachheilpädagogische Diagnostik im Kontext Schule durchgeführt wird und ggf. auch, welche Methoden und Verfahren dabei von wem eingesetzt werden. Weiterhin wird der Einbezug weiterer Professionen, des Kindes und der Eltern geregelt. Die jeweiligen rechtlichen Rahmenbedingungen legen dabei auch die Zuständigkeiten für das diagnostische Handeln fest. Bei der Dokumentation personenbezogener Daten sind jeweils sozial-, straf- und datenschutzrechtliche Vorgaben zu beachten. Insbesondere dem Datenschutz ist Rechnung zu tragen. Bei Audio- und Videoaufnahmen des Kindes muss grundsätzlich eine schriftliche Einwilligung der Personensorgeberechtigten vorliegen. Im Kontext der (interdisziplinären) diagnostischen Tätigkeit spielt vor allem die Schweigepflichtsentbindung eine große Rolle, die für die entsprechenden Professionen/ Personen einzuholen ist.
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