Der eben zitierte Humberto Maturana spricht von autopoietischen Systemen, d. h. von Systemen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie sich andauernd selbst erzeugen. Das lebende System steht also in direkter Wechselwirkung nur mit sich selbst, mit seinen inneren Zuständen, und nicht mit den Objekten der Außenwelt: Es handelt sich um ein sogenanntes selbstreferenzielles System. Diese Überlegungen führen natürlich weg von Abbildtheorien. „Unsere Wirklichkeit ist kein objektives Abbild der Realität, sondern ein Produkt unseres Erkenntnisapparates und damit unsere Konstruktion“ (von Ameln 2004, S. 65).
Aber wie kommen wir dann in der Welt zurecht? Wie kommt es, dass wir als Menschen offensichtlich zumindest ähnliche Empfindungen und Wahrnehmungen haben? Selbstverständlich sind die Systeme nicht vollständig geschlossen. Dies anzunehmen wäre eine Fehlinterpretation der radikal-konstruktivistischen Annahmen. „Es gibt gar keine geschlossenen Systeme. Geschlossenheit existiert nicht.“ 15Das System muss offen sein für die Interaktion mit seiner Umwelt. Daraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass wir die Welt so erkennen können, wie sie „ist“.
Wir finden uns in der Welt zurecht wie ein blinder Waldläufer, der durch Versuch und Irrtum seinen Weg findet – einen möglichen Weg aus einer Reihe von vielen: 16
„Ein blinder Wanderer, der den Fluß jenseits eines nicht allzu dichten Waldes erreichen möchte, kann zwischen den Bäumen viele Wege finden, die ihn an sein Ziel bringen. Selbst wenn er tausendmal liefe und alle die gewählten Wege in seinem Gedächtnis aufzeichnete, hätte er nicht ein Bild des Waldes, sondern ein Netz von Wegen, die zum gewünschten Ziel führen, eben weil sie die Bäume des Waldes erfolgreich vermeiden. Aus der Perspektive des Wanderers betrachtet, dessen einzige Erfahrung im Gehen und zeitweise Anstoßen besteht, wäre dieses Netz nicht mehr und nicht weniger als eine Darstellung der verwirklichten Möglichkeiten, an den Fluß zu gelangen [...]. In diesem Sinne ,paßt‘ das Netz in den ,wirklichen‘ Wald, doch die Umwelt, die der blinde Wanderer erlebt, enthält weder Wald noch Bäume, wie ein außenstehender Beobachter sie sehen könnte.“
In diesem Sinn gibt es also keine Realität, die wir erkennen könnten, sondern ein Passungsverhältnis: Mit Viabilitätbezeichnet Ernst von Glasersfeld diese Passung von Wirklichkeit und Realität. Das relevante Kriterium ist die Nützlichkeit des Wissens, an dem sich natürlich auch die Positionen, die sich aus dem Radikalen Konstruktivismus ergeben, messen müssen. Die konstruktivistischen Sichtweisen sind nicht wahr, sondern bestenfalls brauchbar. „Daraus folgt, dass die Lösung eines Problems nie als die einzig mögliche betrachtet werden darf; es mag die einzige sein, die wir zur Zeit kennen, aber das rechtfertigt niemals den Glauben, unsere Lösung gewähre uns Einsicht in die Struktur einer von uns unabhängig existierenden Welt“ (ebd., S. 95).
Betrachten Sie die folgende Abbildung 5: In der oberen Reihe sind zehn Kieselsteine angeordnet. Egal, ob wir sie von links nach rechts oder von rechts nach links abzählen, es bleiben zehn. 17Wenn Sie diese zehn Kiesel nehmen und in Kreisform anordnen: Es bleiben zehn.
Abb. 5: Die Kommutativität: Entdeckung oder Erfindung? Oder beides? (Eigene Darstellung)
Der Schweizer Biologe und Entwicklungspsychologe Jean Piagetschildert dieses Beispiel, um zu zeigen, dass Erkenntnis „nicht nur von Objekten, sondern auch von Handlungen, von der Koordination von Handlungen abstrahiert wird“ (Piaget 1996, S. 24). Die Ordnung ist nicht in den Kieselsteinen begründet, sondern wird hergestellt, und zwar durch Handlungen, die mit den Objekten durchgeführt werden. Die Zahl Zehn ist keine Eigenschaft der Natur. Für Piaget bedeutet das Erkennen eines Objekts, auf es einzuwirken – es bedeutet nicht, es abzubilden.
„Die Transformationsstrukturen, aus denen Erkenntnis besteht, sind nicht Abbilder der Transformationen in der Realität, sondern nur mögliche isomorphe Modelle, unter denen zu wählen die Erfahrung befähigen kann. Erkenntnis ist also ein System von Transformationen, die allmählich immer adäquater werden“ (ebd., S. 23).
Wenngleich, wie dieses Zitat zeigt, Piaget keine explizit radikal-konstruktivistischen Positionen vertritt, so gilt doch, dass in seiner Epistemologie wissenschaftliches ebenso wie nichtwissenschaftliches Denken Prozesse kontinuierlicher Konstruktion und Reorganisation darstellt und Erkenntnisprozesse nicht isoliert vom Subjekt betrachtet werden dürfen.
Klarerweise sagt Piaget aus dieser Position heraus: Wenn wir danach fragen, wie Erkenntnis entsteht, welcher Natur Erkenntnis ist, so müssen wir auch psychologische Variablen berücksichtigen.
Deshalb waren psychologische Experimente für Piaget zentral. Anhand eines Beispiels, einer Kritik Piagets an den Positionen des logischen Positivismus, sei dies erläutert. Diesem zufolge seien „Logik und Mathematik […] nichts anderes als spezielle sprachliche Strukturen“ (ebd., S. 15). Wenn dem so sei, dann dürften sich Kinder vor Beginn der Sprachentwicklung nicht logisch verhalten.
Piaget konnte experimentell nachweisen, dass Kinder logisch-mathematische Strukturen zeigen, noch bevor Sprache vorhanden ist. „Sprache erscheint in der Regel um die Mitte des zweiten Lebensjahres, aber schon vorher, gegen Ende des ersten oder Anfang des zweiten Lebensjahres, gibt es eine senso-motorische Intelligenz, eine praktische Intelligenz, die ihre eigene Logik hat – eine Logik der Aktion“ (ebd., S. 50).
Das Wesentliche an Piagets genetischer Erkenntnistheorie im Kontext des Dialogs ist wohl, dass behauptet und durch zahlreiche Experimente belegt wurde:
1. Denken ist ein Prozess kontinuierlicher Konstruktion und Reorganisation und
2. es gibt Parallelismen zwischen rationaler Erkenntnisorganisation und psychischen Formationsprozessen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass konstruktivistische Ansätze im Dialog deshalb wertvoll und als eine Art Modell nützlich sind, weil sie klarmachen, dass Erkenntnis keine Abbildfunktiondarstellt und unser Denken auf individuellen Konstruktionsvorgängenberuht. Sich dessen bewusst zu sein, hilft erfahrungsgemäß enorm, unterschiedliche Positionen besser verstehen und auch die eigene „Wahrheit“ in einem relativen Licht sehen zu können.
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