2Vgl. auch das Plädoyer von Karg 2012: 162.
2. Alte und neue Konzeptionen
Die folgenden Abschnitte umreißen die semantische Bandbreite des Heldenbegriffs in seiner gegenwärtigen Bedeutung sowie in der Geschichte der Germanistik und in der Literaturwissenschaft, um vor diesem Hintergrund die Heldenauswahl dieses Bandes genauer zu begründen. Die anschließenden Kapitel zu den einzelnen Epen können grundsätzlich unabhängig voneinander gelesen werden. Ihr volles Potenzial entfalten sie allerdings in der vergleichenden Lektüre, weil die einzelne Heldenfigur in der Absetzung von den anderen Typen an Profil gewinnt; dies wird an zentralen Stellen durch entsprechende Querverweise hervorgehoben. So wird einerseits ersichtlich, welche Eigenschaften die dargestellten Helden teilen (Kraft, Führungsqualitäten, Zorn, Schuld) und andererseits, wie sie ihre Individualität gewinnen (Generationenkonflikt, Identitätsverlust, Selbstzerstörung).
2.1 Die Faszinationskraft von Helden
Helden sind faszinierend anders: außeralltäglich, außerordentlich, gar mit einzigartigen Fähigkeiten ausgestattet. Gleichzeitig können sie erstrebenswerte Grundhaltungen und Aktionsmacht verkörpern. Sie sind als die bewunderten Außergewöhnlichen zugleich auch Vorbilder – und das selbst dann, wenn sie jung sterben oder scheitern. Sie bieten also Identifikationsmöglichkeiten, ihre Aktionen sind aber von der Art, dass sie nicht in den Alltag zu übertragen sind. Das Heroische, das sich im Handeln realisiert, sprengt die lebensweltlich eingeübten Handlungsmuster. Helden entziehen sich, so lässt sich als erstes Vorverständnis festhalten, mindestens in einem Punkt, vielleicht auch in vielerlei Hinsichten, der Nachahmbarkeit.
In der globalisierten Gesellschaft ist die enorme Nachfrage nach dem Helden, der eine unnachahmliche Besonderheit vorzuweisen hat, in seiner Gegenbildlichkeit zur mannigfach-ausdifferenzierten Einbindung Einzelner in soziale Entitäten begründet: Der Held steht für sich. Das Verlangen nach solchen Helden findet seinen Ausdruck in dem sich unaufhörlich erweiternden Repertoire an Heldenfiguren: Die ‚alten‘ Helden werden fortlaufend durch ‚neue‘ ergänzt. Aus der Fantasy-Literatur, der Science-Fiction oder aus Comics stammen Helden wie Harry Potter, Luke Skywalker, Batman oder Monkey D. Ruffy. Zugleich zeugt die moderne Vergesellschaftung von Helden in jährlichen Neuaufnahmen in Halls of Fame des Sports oder der Musik vom aktuellen Bedürfnis, der Durchschnittlichkeit des Alltags durch Identifikation mit herausgehobenen Figuren zu entkommen, die man bewundern und denen man nacheifern kann. Dabei geht es gerade nicht nur um das Außergewöhnliche des Helden / der Heldin, sondern damit eng verbunden auch um das Bedürfnis, im imaginären Mitgehen mit dem Helden Besonderheit gegenüber anderen zu gewinnen, sei es im individuellen Genuss der besonderen Beziehung zur Heldenfigur oder im Bewusstsein kollektiver Fan-Kultur.
Gegenläufig zur Komplexitätssteigerung in modernen Gesellschaften ist seit dem 19. Jahrhundert eine Tendenz zur allmählichen Verengung des Heldenbegriffs zu beobachten, die auch die aktuellen Auseinandersetzungen um den Helden in den Feuilletons prägt. Helden werden in öffentlichen Diskursen in erster Linie unter dem Aspekt der Vorbildlichkeit gefasst, und dies spiegelt sich auch in Wortbildungen wie ‚Volksheld‘, ‚Helden des Alltags‘ oder ‚Heldenkollektiv‘. Diese Helden zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihren Erfolgswillen mit den Prinzipien eines gemeingesellschaftlich für gut befundenen Handelns in Einklang bringen. In Umfragen zum Grad der Hochschätzung von Berufsgruppen stehen Feuerwehrleute vor Pflegern, Ärzten oder auch Soldaten auf dem ersten Platz (vgl. die Umfrage in: Focus Nr. 9, 2002).
2.2 Geschichte des Heldenbegriffs
Dass Helden heute wieder in aller Munde sind, ist nicht selbstverständlich. Unsere Gesellschaft gilt als ‚postheroisch‘ (vgl. Münkler 2007), und schon Brecht legte seinem Galilei das Diktum in den Mund, dass diejenige Gesellschaft glücklich sei, die keinen Helden nötig habe. Nun sind die Helden, die wir heute feiern, in der Regel keine Heroen mit einzigartigem Status. Vielmehr scheint es ein Merkmal des (post-)modernen Helden zu sein, dass er im Kollektiv handelt. Das gilt für die Feuerwehrleute vom Ground Zero ebenso wie für die ‚Helden von Fukushima‘. Das Heldenkollektiv hat auch in die Literatur Eingang gefunden: Harry Potter oder der Hobbit Frodo handeln zusammen mit ‚Gefährten‘. Ferner ist unser Verständnis vom Helden durch das Merkmal der Zivilcourage bestimmt: Jemand handelt zum Wohl anderer und begibt sich dabei in Gefahr.
Dieses verhältnismäßig ‚junge‘ Grundverständnis vom Heldentum als ‚Bürgerpflicht zum Handeln‘, zum ‚Nicht-Wegschauen‘ zeigt vor allem eines an: Die Demokratisierung des Heldentums. Theoretisch kann heute jeder von uns ein Held oder eine Heldin sein bzw. werden. Dieser Heldenbegriff wird durch eine ganze Reihe von Vereinen und Institutionen propagiert, die ‚normalen‘ Bürgern eben dies: die Pflicht zur Tat, zur Widerständigkeit, zum Eigensinn beibringen wollen. Solche Initiativen sind etwa der im Jahr 2000 gegründete Verein ‚Gesicht zeigen. Für ein weltoffenes Deutschland e.V.‘, das für Schulen 2009 entwickelte ‚Projekt Zivilcourage‘ oder das von der AG ‚Frieden‘ in Trier seit 2010 betriebene Kursangebot ‚Yes, you can‘. Der amerikanische Psychologe Philip G. Zimbardo verfolgt im Rahmen seines 2010 begründeten ‚Heroic Imagination Projects‘ ähnliche Ziele: Auf Zivilcourage und Widerständigkeit könne die Demokratie nicht verzichten. Daher bietet Zimbardo auf seiner Homepage einen Internetkurs an, in dem jeder den everyday heroism erlernen, sich also Klick für Klick zum Helden ausbilden lassen kann. 1
Dass diese Demokratisierung des Heldenbegriffs – jeder kann ein Held sein, wenn er eigene Interessen zum Wohl anderer in bestimmten Situationen zurückstellt – einer auf Einzigartigkeit und Außerordentlichkeit des Helden basierenden Substanz des Heldenbegriffs zuwiderläuft, ist klar: Führt man sie konsequent zu Ende, dann ist jede Mitbürgerin eine Heldin, die das ausgesperrte Nachbarskind für einige Stunden aufnimmt; jeder Mitbürger, der das verlorene Portemonnaie ins Fundbüro zurückbringt usw. Einer derartigen Omnipräsenz der Helden leisten die Medien in ihrem Neuigkeits- und Sensationshunger kräftig Vorschub. – Wir erinnern nur an die Werbung der Sportschau (ARD) zum Start der Bundesliga- Saison 2011: „Hier werden Helden gemacht!“
Diese im Alltag weit verbreitete Entheroisierung des Helden ist freilich kein Zufall, sondern man kann sie geradezu als Reaktion auf seine vorhergehende Bedeutung im 19./20. Jahrhundert lesen. Gerade in Deutschland hat man kein ungebrochenes Verhältnis zum Heldentum und ist deshalb bemüht, den Begriff mit sozialen Tugenden wie Zivilcourage und kollektivem Handeln zu besetzen. Als Beispiel für die Problematik des Begriffs führen wir ein Zitat aus einem am 15. Mai 2010 in der Bild am Sonntag erschienenen Interview an, in dem der damalige Verteidigungsminister zu Guttenberg eine Neubewertung des Heldenbegriffs forderte:
„Der Begriff des Heldentums ist durch den Missbrauch in der Nazi-Zeit erheblich belastet. Das erschwert einen rationalen Umgang. Wenn man ihn aber davon entkoppelt, stellt man schnell fest, dass der Umgang individuell ganz unterschiedlich ist. Meine Kinder benutzen den Begriff Held ganz zwanglos, bei anderen löst er sofort Nesselausschlag oder Entsetzen aus. Genauso unterschiedlich wird von jedem beantwortet, ob sich jemand tapfer, sehr tapfer oder wie ein Held verhalten hat. Grundsätzlich aber gilt, dass wir den Schritt hin zu einem rationalen Umgang mit dem Begriff Held oder Heldentum nur mit der gebotenen Sensibilität und im Bewusstsein der Geschichte tun können.“
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