Die Kyniker verstanden sich als Kosmopoliten; Diogenes antwortet auf die Frage, woher er komme: „Ich bin Weltbürger“ (Diogenes Laertius VI 63:
) 72und Plutarch lobt Zenon ausdrücklich für sein universales Konzept, das Alexander d. Gr. als erster in die Praxis umgesetzt hat: „Dass wir nicht getrennt nach Stadtstaaten und Dörfern leben …, sondern alle Menschen als Landsleute und Mitbürger betrachten, und eine einzige Lebensform und -ordnung gelte“ (Moralia 329A–B) 73. Weil die meisten Menschen falsche Vorstellungen vom wahren und naturgemäßen Leben haben, kommen die Kyniker als Kundschafter zu ihnen und bringen ihnen in Anekdoten, Sentenzen und Maximen (= Chrien; gr.
) jene Einsichten dar, die als Lebenssätze für alle Wechselfälle des Lebens Verwendung finden können. Das Handeln muss sich immer an den Umständen orientieren, denn Leiden entsteht durch eine falsche Auffassung von den Dingen. „Daher muss man nicht versuchen, die Verhältnisse zu ändern, sondern sich selbst den jeweiligen Umständen anzupassen, wie es auch die Seeleute tun. Sie versuchen nämlich nicht, die Winde und das Meer zu ändern, sondern sie bereiten sich darauf vor ... So musst du dich gegenüber den Umständen verhalten. Du bist alt geworden: Lass die Spiele der Jugend. Du bist schwach: Lass die Hände von einer Arbeit, die Kraft verlangt ...“ (Teles, Fragmente 2).
Kynische Wanderphilosophen
Im 1./2.Jh. n.Chr. erlebte der Kynismus eine zweite Blüte, wobei zwischen Kynikern und Stoikern oftmals nicht mehr zu unterscheiden war. Berühmte Kyniker bzw. Propagandisten kynischer Gedanken dieser Zeit waren Demetrios (lebte unter Nero und Vespasian), Dio Chrysostomus (ca. 40–120 n.Chr.), Epiktet (ca. 55–135 n.Chr.), Favorinus (ca. 80/90–150 n.Chr.) und Demonax (geb. 80/90 n.Chr.). Die Polemiken eines Dio Chrysostomus, Epiktet oder Lukian von Samosata (ca. 120–180 n.Chr.) gegen ein falsch verstandenes Kynikertum lassen sehr deutlich den Kynismus als ein reichsweites Phänomen erkennen. Die kynischen Wanderphilosophen bildeten keine elitäre Schule, sondern durchzogen die römisch-hellenistische Welt und brachten ihre Botschaft der sittlichen Erneuerung vor allem auf Straßen und Plätzen, vor Theatern und Tempeln zu Gehör 74. Um Kundschafter der Götter zu sein, muss der Kyniker „ganz im Dienst der Gottheit stehen, imstande sein unter den Menschen herumzugehen, nicht gefesselt durch bürgerliche Pflichten, nicht gebunden durch persönliche Beziehungen“ (Epiktet, Dissertationes III 22,69) 75. Sie erregten durch ihr unkonventionelles Aussehen (Mantel, Ranzen, Stock, lange und ungepflegte Haare), vor allem aber durch das Aufgreifen aktueller Themen und Probleme des alltäglichen Lebens häufig Aufsehen und zogen sich nicht selten die Feindschaft der Herrschenden zu 76. Viele Wanderphilosophen hatten keinen festen Wohnsitz, sie reisten barfüßig, bettelten und schliefen auf dem Boden öffentlicher Gebäude. Ein Zentrum der im 1. Jh. n.Chr. neu belebten Kyniker-Bewegung war Korinth; schon Diogenes hielt sich hier gern auf und der berühmte Kyniker Demetrius 77lebte und lehrte ebenfalls in dieser Stadt.
Stoa
Der Kynismus und die Stoa sind sowohl durch ihre Entstehungsgeschichte als auch durch ihr geistiges Profil vielfältig miteinander verbunden. Als Gründer der Stoa gilt der Krates-Schüler Zenon aus Kition auf Zypern (ca. 334–262 v.Chr.). Er gründete um 300 v.Chr. eine Philosophenschule, die ihren Namen vom Ort des Lehrens erhielt; einer bemalten Säulenhalle an der Agora von Athen (
= „bunte Halle“). Als Namen für die Bewegung bürgerten sich dann
(= „die Stoiker“) oder
(= „die Stoa“) ein 78.
Die Stoa als komplexes System
Der wichtigste Unterschied zwischen Stoa und Kynismus besteht darin, dass die Kyniker sich ausschließlich mit der Ethik befassten (vgl. Diogenes Laertius 6,103). Demgegenüber entwickelte die Stoa ein über die Ethik hinausgehendes komplexes wissenschaftliches System, das vor allem auch die Logik, die Sprachphilosophie, die Erkenntnistheorie und die Physik miteinschloss. Die Geschichte der Stoa kann in drei Hauptphasen aufgeteilt werden: Die ‚alte‘ Stoa umfasst den Zeitraum von ca. 300–150 v.Chr.; hier wirkten als Schulhäupter nach Zenon bes. Kleanthes (ca. 310–230 v.Chr.) und Chrysipp (ca. 282– 209 v.Chr.). Die ‚mittlere‘ Stoa von ca. 150 v.Chr. bis zur Zeitenwende fand ihre bedeutendsten Vertreter in Panaitios von Rhodos (ca. 180–100 v.Chr.) und Poseidonios (ca. 135–50 v.Chr.). Die kaiserzeitliche Stoa (bis ca. 150 n.Chr.) zeichnete sich nicht so sehr durch eine Theorieerweiterung, sondern vor allem (in Verbindung mit kynischen Elementen) durch eine Profilierung im ethisch-politischen Bereich aus. Hauptvertreter dieser Epoche 79waren Seneca (um 4 v.Chr. − 65 n.Chr.), Musonius Rufus (ca. 25–85 n.Chr.), Epiktet (ca. 55–135 n.Chr.) und Marc Aurel (121–180 n.Chr.).
Pantheismus
Die Stoa geht von einer göttlichen Struktur der Wirklichkeit aus 80. Sie vertritt einen monistischen Pantheismus, wonach die Gottheit in allen Daseinsformen wirkt. Sie ist weltimmanent und allgegenwärtig, zugleich aber gerade deshalb nicht fassbar. Chrysipp lehrt, „die göttliche Kraft liege in der Vernunft und in der Seele und dem Geist der gesamten Natur, und erklärt weiter, die Welt selbst und die alles durchdringende Weltseele sei Gott.“ 81Es existiert nichts über die Stofflichkeit alles Seienden hinaus, es gibt weder einen transzendenten Schöpfergott noch eine metaphysische Weltbegründung. Die Gottheit wohnt als bildende Kraft, als
(‚Geist-Hauch‘) oder
(‚befruchtender Logos‘), den Dingen inne, die sie schuf. Der Logos ist feinste Materie und durchdringt den gesamten Kosmos als lenkende und gestaltende Kraft. Nichts geschieht im Kosmos ohne Zutun/Einfluss des Logos, der auch als ‚göttlich‘ bezeichnet werden kann. Nach der Stoa ist die Bestimmung des Menschen eingebettet in die Vorstellung einer göttlichen, zweckmäßig eingerichteten Allnatur, der zu folgen der Mensch berufen ist. In der Übereinstimmung mit der Allnatur (=
) und sich selbst vollzieht sich die authentische Selbsterfahrung des Vernünftigen. Indem sich der Mensch auf das naturgemäße Leben ausrichtet 82, wählt er das seinen natürlichen Neigungen Zuträgliche (‚Oikeiosislehre‘;
= „Zuträglichkeit“); er sucht durch naturgemäßes Leben das ihm zugedachte Lebensziel zu erreichen.
Die Affekte
Innere Freiheit
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