3.4 Bilderbenennverfahren
Für die deutsche Sprache liegen eine Anzahl veröffentlichter Verfahren zur Überprüfung der phonologischen Prozesse des phonetisch-phonologischen Inventars vor ( Tab. 4).
Als veraltet anzusehen sind diejenigen Verfahren, die aus segmentorientierter Sicht untersuchen, ob ein Phon in einer spezifischen Wortposition korrekt oder inkorrekt realisiert wird. Dabei wurde in der Regel nicht notiert, auf welche Weise ein Laut nicht korrekt realisiert wird. Jedes Phon oder Phonem wurde nur einmalig pro Wortposition überprüft. Zu diesen Verfahren zählen bspw. der Ravensburger Stammler-Prüfbogen (Frank / Grziwotz 1974), der Werscherberger Lautprüf-Bogen (Gey 1976) oder der SCHUBI-Artikulationstest (Willikonsky 2006).
Tab. 4: Übersicht über Diagnoseverfahren bei Aussprachestörungen
Verfahren |
Methode, ItemUmfang Darstellung, Normierung |
Analysen/Diagnose(n) |
1. Segmentorientierte Verfahren – Beispiele (veraltetes Vorgehen) |
Lauttreppe nach Möhring (Möhring 1938) |
• Nachsprechen• Liste mit 156 Wörtern |
• Phoneminventar• Stammeln, Dyslalie |
Ravensburger Stammler-Prüfbogen (Frank/Grziwotz 1974) |
• Benennen• 40 farbige Zeichnungen auf einem DinA4-Blatt |
• Phoneminventar• Stammeln |
LBT – Lautbildungstest (Fried 1980) |
• Benennen• 42 S/w-Bildkarten• teilnormiert |
• Phoneminventar• Stammeln, Dyslalie |
SCHUBI Artikulationstest (Willikonsky 2006) |
• Benennen• 59 farbige Zeichnungen auf Karten |
• Phoneminventar• Stammeln, Dyslalie |
2. Prozessorientierte Verfahren |
LOGO Ausspracheprüfung (Wagner 2011) |
• Benennen• 108 farbige Zeichnungen in DIN A4-Ringbuch• nicht normiert/standardisiert |
• phonetisches Inventar• phonemisches Inventar• Prozessanalyse• Silbenstruktur• Diagnose: Schweregrad der Aussprachestörung (leicht, mittel, schwer) |
AVAK – Analyseverfahren zu Aussprachestörungen bei Kindern (Hacker/Wilgermein 2002) |
• Benennen• 113 S/w-Zeichnungen auf einem DIN A4-Blatt• nicht normiert/standardisiert |
• phonemisches Inventar• prozessanalyse• Silbenstruktur |
Patholinguistische Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen – Teil: Phonologie (Kauschke/Siegmüller 2009) |
• Benennen• 85 farbige Zeichnungen in DIN A4-Ringbuch• nicht normiert/standardisiert |
• phonemisches Inventar• prozessanalyse• Silbenstruktur• orofaziales Screening |
PAP – Pyrmonter Ausspracheprüfung (Babbe 2011) |
• Benennen• 100 S/w-Zeichnungen in• DIN A4-Ringbuch• nicht normiert/standardisiert |
• phonemisches Inventar• Prozessanalyse |
PLAKSS – Psycholinguistische Analyse kindlicher Aussprachestörungen-II (Fox 2014) |
• Benennen• 99 farbige Zeichnungen in DIN A4-Ringbuch• normiert/teilstandardisiert• zusätzlich: Inkonsequenztest |
• phonetisches Inventar• phonemisches Inventar• Prozessanalyse Diagnose(n):1. verzögerte phonologische Entwicklung2. konsequente phonologische Störung3. inkonsequente phonologische Störung4. Artikulationsstörung |
Bilderbenennverfahren, die einen phonologisch-orientierten Ansatz der Überprüfung der Aussprache verfolgen, wurden mit Beginn der 1990er Jahre in Deutschland veröffentlicht. Diese Verfahren wurden oft mehrfach überarbeitet. Nur eines dieser Verfahren wurde normiert (PLAKSS-I, Fox 2002 bzw. PLAKSS-II Fox-Boyer 2014a).
3.5 Überprüfung der Inkonsequenzrate
Die Überprüfung der Inkonsequenzrate dient zur differenzialdiagnostischen Trennung von konsequenter und inkonsequenter phonologischer Störung. Hierbei wird ein Kind gebeten, innerhalb einer Sitzung die gleichen 25 bis 30 Wörter dreimal zu benennen. Ein Inkonsequenztest sollte so konstruiert sein, dass er sowohl ein-, zwei-, drei- und wenn möglich viersilbige mono-morphematisch Wörter in ähnlicher Anzahl beinhaltet. Auch sollten die Wörter unterschiedlicher phonologischer Komplexität sein. Dodd (1995) veröffentlichte den ersten Inkonsequenztest für das Englische. Für die deutsche Sprache liegt ein Inkonsequenztest von Fox-Boyer (PLAKSS-II, Fox-Boyer 2014a) vor. Bei Kindern mit einem unzureichend großen expressiven Wortschatz kann die Inkonsequenzrate mithilfe eines individuell gestalteten Prüfmaterials stattfinden, um eine standardisierte Überprüfung der Inkonsequenz durchzuführen. In diesem Fall werden die Eltern des Kindes gebeten, ein Wortschatztagebuch zu erstellen. Auf der Basis dieses Wortschatztagebuchs erstellt der Therapeut einen für das Kind angepassten Inkonsequenztest und bittet das Kind, diese Wörter innerhalb einer Therapiesitzung mehrfach (mindestens dreimal) zu benennen. Beide Vorgehen sollten innerhalb einer Therapiesitzung durchgeführt werden, damit die Tagesperformance des Kindes das Ergebnis nicht beeinflusst.
3.6 Überprüfung der Verständlichkeit
Die Sprechverständlichkeit stellt einen der einflussreichsten Faktoren in Bezug auf die Beeinträchtigung der kommunikativen Partizipation von Kindern in den unterschiedlichsten Lebensumfeldern dar (McLeod 2015). Zudem konnten Hellström und Lundberg (2014) zeigen, dass die Einstellung der Kinder zu ihrem eigenen Sprechen mit ihrer Verständlichkeit korreliert.
Die Überprüfung der Verständlichkeit ist international eine verbreitete Methode in der sprachtherapeutischen Diagnostik. Dabei variieren die Ansätze jedoch in ihrer Komplexität und Länge von Ein-Wort-Überprüfungen zu Einschätzungen zusammenhängender Rede und Rating-Skalen unterschiedlicher Art (Flipsen 2006). Miller (2013) empfiehlt für die sprachtherapeutische Praxis eine Kombination aus quantitativen Messungen (z. B. Errechnung der korrekt produzierten Konsonanten / PCC) und eher realistische Einschätzungen in verschiedenen Lebenssituationen der Kinder. Gerade validierte ICF-CY- orientierte Verfahren zur Einschätzung der Verständlichkeit von Kindern in sozialen Kontexten sind notwendig, um auch im Hinblick auf eine Evaluation der Therapieeffektivität Ergebnisse quantifizieren zu können.
Skala zur Verständlichkeit im Kontext Hierzu stellt die Skala zur Verständlichkeit im Kontext (Intelligibility in Context Scale / ICS) ein erstes Verfahren im Deutschen bereit (McLeod et al. 2012). Die ICS-G ist ein kostenfrei herunterzuladendes Screening-Instrument, das Eltern die Möglichkeit gibt, die Sprechverständlichkeit ihres Kindes in Bezug auf sieben verschiedene Kommunikationspartner (z. B. Freunde, Lehrer, unbekannte Personen) einzuschätzen. Die Verständlichkeit wird mithilfe einer Fünf-Punkte-Skala durch die Eltern bewertet. Der Gesamtpunktwert kann von minimal sieben bis maximal 35 Punkte reichen. Es wird daraus ein Durchschnittswert errechnet, der maximal den Punktwert fünf abbildet. Je höher dieser Wert, desto verständlicher wird das Kind eingeschätzt.
Die ICS wurde in mittlerweile 63 Sprachen übersetzt und in verschiedenen Sprachen auch im Hinblick auf Validität und Reliabilität überprüft (McLeod 2015). Für die deutsche Version belegen Neumann et al. (in Vorbereitung) erste psychometrische Daten. Unter dem folgenden Link ist die ICS in jeglicher Sprachversion kostenfrei erhältlich: http://www.csu.edu.au/research/multilingual-speech/ics, 15.05.17. Dies macht auch ihren Einsatz in anderen Sprachen (z. B. Arabisch, Polnisch) für die Sprachtherapie möglich und hilft bei der Einschätzung der Verständlichkeit von Kindern in deren Muttersprache.
3.7 Überprüfung der phonologischen Bewusstheit
Kinder mit einer konsequenten oder inkonsequenten phonologischen Störung tragen ein großes Risiko, eine Lese-Rechtschreib-Störung zu entwickeln (Schnitzler 2015). Dies liegt darin begründet, dass das zugrunde liegende Defizit insbesondere der konsequenten phonologischen Störung auf der gleichen Sprachverarbeitungsebene liegt wie ein häufiges Defizit der Lese-Rechtschreibstörung: der Ebene des phonologischen Erkennens.
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