Die inkonsequente phonologische Störung tritt sehr selten auf. Ca. 3 bis 5 % aller Kinder mit Aussprachestörungen sind hiervon betroffen (Fox / Dodd 2001). Aufgrund der Seltenheit konnten bisher nur bei sehr wenigen Kindern ätiologische Faktoren erhoben werden. Bei einer Untersuchung an neun Kindern konnten bei sieben Kindern Schwierigkeiten unter der Geburt oder während der Schwangerschaft festgestellt werden (Fox et al. 2002). Damit unterschied sich diese Gruppe an Aussprachestörungen signifikant von den anderen Gruppen und ebenfalls von nichtsprachauffälligen Kindern im Hinblick auf diesen Faktor. Eine minimale Hirnschädigung könnte verantwortlich für die Ausprägung dieser Störung sein. Bislang existieren allerdings keinerlei Nachweise in diese Richtung.
2.3.5 Verbale Entwicklungsdyspraxie
Die verbale Entwicklungsdyspraxie (VED, anglo-amerikanisch: CAS = childhood apraxia of speech) wurde zuerst von Hadden (1891), aber insbesondere von Morley (1965) beschrieben. Sie gilt laut Davis et al. (1998) als die häufigste Fehldiagnose der Logopädie. Bis heute werden z. T. ihre Existenz, aber vor allem anzusetzende diagnostische Kriterien in der Literatur umstritten diskutiert. Daher ist es nicht ungewöhnlich, wenn erfahrene Kliniker bei ein und demselben Kind nicht notwendigerweise zu einer identischen Diagnose insbesondere dahingehend, ob es sich um eine verbale Entwicklungsdyspraxie handelt oder nicht, kommen (Davis et al. 1998). Die verbale Entwicklungsdyspraxie ist als eine sehr seltene Form der Aussprachestörung anzusehen. Laut Shriberg (1994) sind ca. 3 bis 5 % aller Kinder mit Aussprachestörung von ihr betroffen. Bei Kindern mit genetischen Syndromen ist die Auftretenshäufigkeit allerdings größer.
Das Komitee für verbale Entwicklungsdyspraxie der American Speech Language Hearing Association (ASHA 2007) empfiehlt folgende Definition für die verbale Entwicklungsdyspraxie:
“Childhood apraxia of speech (CAS) is a neurological childhood (pediatric) speech sound disorder in which the precision and consistency of movements underlying speech are impaired in the absence of neuromuscular deficits (e. g., abnormal reflexes, abnormal tone). CAS may occur as a result of known neurological impairment, in association with complex neurobehavioral disorders of known or unknown origin, or as an idiopathic neurogenic speech sound disorder. The core impairment in planning and / or programming spatiotemporal parameters of movement sequences results in errors in speech sound production and prosody” (ASHA 2007, definitions).
Kernsymptome Die VED wird in der Regel als ein Symptomkomplex beschrieben, so dass nur bei einer Summe gleichzeitig auftretender Symptome von einer verbalen Entwicklungsdyspraxie ausgegangen werden sollte. Zu den Kernsymptomen zählen (z. B. Ozanne 2005):
1. hochgradig inkonsequente Wortrealisation,
2. unvollständiges Phoninventar,
3. vielfältige unsystematische Auslassungs- und Ersetzungsprozesse,
4. auffällige Prosodie,
5. oro-motorische Schwierigkeiten, insbesondere bei Sequenzierungsübungen (Diadochokinese),
6. Suchbewegungen,
7. schlechtere willkürliche als unwillkürliche Sprechmotorik und
8. Teilsymptom einer SSES.
Der technische Bericht (technical report) des Komitees für verbale Entwicklungsdyspraxie der American Speech Language Hearing Society summiert den aktuellen Wissenstand der Forschung im Hinblick auf die Ursachen und Störungsebenen: ASHA – American Speech Language Hearing Association (2007): Childhood Apraxia of Speech. In: www.asha.org/policy, 25.1.2017
2.3.6 Phonetisch-phonologische Störungen bei mehrsprachigen Kindern
Manche Kinder zeigen Schwierigkeiten in ihrer Aussprachefähigkeit, unabhängig davon, ob sie eine, zwei oder mehrere Sprachen sprechen (Battle 2012). Nach gängiger Lehrmeinung begünstigt das Vorliegen von Mehrsprachigkeit bei Kindern das Auftreten einer Aussprachestörung jedoch nicht (Kannengieser 2015). Da es sich bei Aussprachestörungen um Schwierigkeiten während des phonologischen Erwerbs und Problemen auf Ebenen des Sprachverarbeitungssystem handelt, ist nicht davon auszugehen, dass das Erlernen einer jeweiligen Sprache einen Einfluss darauf hat, ob ein Kind eine Aussprachestörung entwickelt oder nicht.
Sprachenunabhängigkeit Das bedeutet, das Auftreten einer Aussprachestörung sollte sprachenunabhängig sein. Fox-Boyer / Salgert (2014) gehen daher von der gleichen Prävalenzrate von 5 bis 16 % einer Aussprachestörung bei mono- wie auch multilingualen Kindern aus. Es können im Erwerb der Aussprache beider Sprachen Unterschiede auftreten, je nachdem ob ein sukzessiver oder ein simultaner Zweitspracherwerb vom Kind durchlaufen wird (Kannengieser 2015). Es kann auf phonetischer Ebene in beiden Sprachen zu einem Sigmatismus oder (nur in einer Sprache) zu anderen Lautfehlbildungen kommen, die evtl. von Sprachtherapeuten in der Erstsprache des Kindes schwierig zu erkennen sind. In einem systematischen Review von Hambly und Kolleginnen konnte festgestellt werden, dass mehrsprachige Kinder mit oder ohne Aussprachestörungen generell eher atypische Lautsubstitutionen und Elisionen zeigen (Hambly et al. 2013). Laut Dodd (2005) liegt eine Aussprachestörung bei einem bilingualen Kind dann vor, wenn sie in beiden Sprachen diagnostiziert werden kann. Tatsächlich gibt es in der Literatur Darstellungen von Einzelfällen, bei denen in beiden Sprachen die gleiche Art von Aussprachestörung diagnostiziert wurde. Kohortenuntersuchungen können diese klareren Diagnosestellungen nicht für alle Kinder bestätigen: Albrecht et al. (in Vorbereitung) konnten z. B. anhand einer Stichprobe von 84 türkisch-deutschsprachigen Kindern zeigen, dass die eindeutige Zuweisung zu den Kategorien regelrechte Entwicklung vs. Aussprachestörung für einen Großteil der Kinder schwierig war. Eine Gruppe von 15 Kindern zeigte bspw. nur in einer Sprache atypische phonologische Prozesse, während die andere Sprache als unauffällig zu bewerten war. Des Weiteren gab es Kinder, die nur in einer Sprache verzögerte Prozesse zeigte, aber nicht in der anderen, oder aber in der anderen Sprache Prozesse, die als pathologisch zu werten sind. Daher muss davon ausgegangen werden, dass die Diagnose einer Aussprachestörung bei bilingualen Kindern nicht immer einfach zu stellen ist.
Fox-Boyer, A., Salgert, K. (2014): Erwerb und Störungen der Aussprache bei mehrsprachigen Kindern. In: Chilla, S., Haberzettl, S. (Hrsg.): Handbuch Spracherwerb und Sprachentwicklungsstörungen (Mehrsprachigkeit). Elsevier, München, 109-121
Fox, A. V., Ünsal, F. (2002): Lautspracherwerb bei zweisprachigen Migrantenkindern. Forum Logopädie 3, 10-15
Zusammenfassung
Kinder mit Aussprachestörungen stellen die größte Gruppe innerhalb der Kinder mit Auffälligkeiten der Sprachentwicklung dar. Sie sind allerdings keine homogene Gruppe, sondern unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Ätiologie, den Schweregrad der Aussprachestörung und ihre Symptomatik. Aus psycholinguistischer Sicht betrachtet zeigen sie unterschiedliche Störungsebenen im Sprachverarbeitungsprozess. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, sie aus dem Blickwinkel eines Klassifikationsmodells zu betrachten, das diese Störungsebenen berücksichtigt. Das vorliegende Kapitel bezieht sich daher auf das Klassifikationsmodell von Dodd (1995; 2005).
3 Diagnostik
3.1 Diagnostikebenen nach der ICF-CY
Kinder mit Aussprachestörungen bedürfen einer fundierten Diagnostik, damit sie therapeutisch optimal versorgt werden können. Die ICF-CY (WHO 2007) bietet hierfür eine Grundlage, die nicht nur die Symptomatik des Kindes, sondern deren Auswirkungen unter Einbezug der Kontextfaktoren betrachtet. Daher lassen sich mit ihrer Hilfe individuelle Ziele für jedes Kind festlegen.
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