Tab. 1.4: Im höheren Lebensalter häufig eingesetzte Medikamente, die Einfluss auf die Inzidenz und den Verlauf von Infektionskrankheiten haben
MedikamentWirkungen (Auswahl)Beeinflusste Infektionskrankheiten (Auswahl)
Der Gebrauch von Sedativa allegemein ist mit einer höheren Inzidenz von ambulant erworbenen Pneumonien assoziiert (Yoshikawa et al. 2017). Einige Studien zeigen eine erhöhte Infektionsrate unter Einnahme von Benzodiazepinen und Z-Substanzen, die Datenlage hierfür ist jedoch nicht ganz eindeutig. Neuroleptikagebrauch erhöht das Risiko für Aspirationspneumonien (Herzig et al. 2017;
Kap. 1.6.4;
Kap. 8.1). Für Risperidon wird eine generell immunsuppressive Wirkung diskutiert. Anticholinergika erhöhen die Restharnbildung und damit die Gefahr für Harnwegsinfekte (
Kap. 9.1), außerdem vermindern sie die Bildung von Haut- und Schleimhautsekreten und führen so zur Einschränkung der Barrierefunktionen (Yoshikawa et al. 2017). Statine reduzieren die Antikörperantwort und die klinische Effektivität von Impfungen (
Kap. 6.2.1), möglicherweise durch die Beeinflussung der Zellmembran von Immunzellen und die Veränderung der HDL-Expression von regulatorischen T-Zellen (Del Giudice et al. 2017). Auch die Langzeiteinnahme von Metformin und NSAR beeinflusst die adaptive Immunantwort (Agarwal et al. 2018). Langzeitgebrauch von Protonenpumpenhemmern ist mit einem vermehrten Auftreten von gastrointestinalen Infektionen durch Campylobacter jejuni, Salmonellen und C. difficile assoziiert (
Kap. 10) (Vaezi et al. 2017). Immunsuppressive Medikamente (Chemotherapeutika oder anti-inflammatorische Medikamente, wie Kortikosteroide) unterdrücken eine effektive Immunantwort auf Infektionen und Impfungen (Del Giudice et al. 2017). Bei Patienten mit rheumatoider Arthritis kommt es unter Behandlung mit Biologika dosisabhängig zur Zunahme schwerwiegender Infektionen. Antibiotika beeinflussen akut die Zusammensetzung des Mikrobioms und erhöhen das Risiko für C. difficile-Enteritiden (
Kap. 1.3;
Kap. 7;
Kap. 10.1).
1.6 Geriatrische Syndrome
Geriatrische Syndrome beeinflussen die Infektionsanfälligkeit und den Verlauf von Infektionskrankheiten. Ein geriatrisches Syndrom ist ein klinisches Phänomen älterer Patienten, das eine hohe Prävalenz besitzt, eine multifaktorielle Genese aufweist, mit weiteren Komorbiditäten assoziiert und mit einem schlechteren Outcome verbunden ist. Die multifaktorielle Genese geriatrischer Syndrome umfasst meist altersphysiologische Organveränderungen, chronische und akute Erkrankungen sowie Medikamentenwirkungen. Zu den klassischen geriatrischen Syndromen gehören Immobilität, Instabilität und Inkontinenz (
Kap. 1.6.5) sowie kognitive Defizite (
Kap. 1.6.3) und Mangelernährung (
Kap. 1.6.1). Hinzu kommen die Sarkopenie (
Kap. 1.6.2), die oben ausführlich beschriebene Immunoseneszenz (
Kap. 1.1) und die iatrogenen Schädigungen durch Polypharmazie (
Kap. 1.5). Auch die Dysphagie (
Kap. 1.6.4) mit ihrer besonderen Relevanz für Infektionskrankheiten wird hier unter den geriatrischen Syndromen aufgeführt.
Es gibt Überschneidungen und wechselseitige Beeinflussungen zwischen den einzelnen geriatrischen Syndromen. Das übergreifende geriatrische Syndrom Frailty (Gebrechlichkeit) liegt bei bis zu 45% der ≥ 85-Jährigen vor (Del Giudice et al. 2017) und ist definiert durch eine verminderte Belastbarkeit und Kraft (physisch, mental, emotional) einhergegend mit einer erhöhten Vulnerabilität, durch einen endogenen oder exogenen Stressor die Selbständigkeit zu verlieren oder zu sterben (Rodriguez-Manas et al. 2013). Die gängigen Diagnosekriterien für Frailty zeigen insbesondere Überschneidungen zur Sarkopenie und zur Malnutrition.
1.6.1 Malnutrition
Protein- und Kalorienmangelernährung
Malnutrition äußert sich im höheren Lebensalter meist als Protein- und Kalorienmangelernährung. Sie betrifft 20–30% aller älteren Menschen, insbesondere institutionalisierte und hospitalisierte Personen (El Chakhtoura et al. 2017). Bei etwa einem Viertel aller Krankenhauspatienten und bei mehr als der Hälfte der geriatrischen Krankenhauspatienten liegt eine Mangelernährung vor, ein Risiko für eine Mangelernährung besteht noch deutlich häufiger (Kaiser et al. 2010).
Die Ursachen der Malnutrition sind multifaktoriell: sozioökonomisch, psychologisch (Depression, Isolation) und biologisch/medizinisch. Verändertes Geschmacks- und Durstempfinden, verzögerte Magenentleerung, Bewegungsmangel, Appetitlosigkeit (u. a. durch Änderungen der Spiegel von Appetit-regulierenden Peptiden und Hormonen), schlechter Zahnstatus, schlecht sitzende Zahnprothesen, Medikamente und Schluckstörungen (Dysphagie,
Kap. 1.6.4) sind wesentliche Faktoren, die zur Mangelernährung beitragen. Auch eine ungünstige Zusammensetzung der Nahrung, ein schlechter Zugang zum Essen, funktionelle Defizite, die die Essenszubereitung und Nahrungsaufnahme erschweren, sowie Essen ohne Gesellschaft anderer Menschen tragen zur Malnutrition bei älteren Menschen bei. Erhöhte Spiegel proinflammatorischer Zytokine bei älteren Personen (Inflamm-Aging,
Kap. 1.1.3) führen zu einer vermehrt katabolen Stoffwechsellage, die durch einen hohen Energieverbrauch bei akuten und chronischen Erkrankungen noch vestärkt wird (El Chakhtoura et al. 2017). Insbesondere inflammatorische Prozesse im Rahmen schwerer akuter Infektionskrankheiten können zur Malnutrition beitragen. Die Erkankungs-assoziierte Inflammation ist ein ätiologisches Kriterium der GLIM (Global Leadership Initiative on Malnutrition)-Kriterien (
Kap. 4.2.1) zur Diagnose der Malnutrition (Cederholm et al. 2019).
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