»Nein, natürlich nicht. Aber die Tote kann definitiv nicht angeschwemmt worden sein. Wieso sieht er das nicht ein? Außerdem bin ich sauer, weil er mich unmöglich behandelt hat. Er wollte mir nicht mal zuhören. Stattdessen hat er einen Dorfpolizisten beauftragt, meine Personalien aufzunehmen.«
»Ja, und? Hätte er lieber vor den Kollegen und einem Hausarzt deine Mordtheorien durchdiskutieren sollen? Jetzt spinn doch nicht!« Sie räumte den Frühstückstisch ab. Sophie folgte ihr in die Küche.
»Vielleicht hast du in dem Punkt recht, aber musste er so feindselig sein? Meine Güte, er hat mich sogar gefragt, ob ich eine Story wittere.«
»Das hätte er sich wirklich sparen können«, gab Tina zu. »Aber du kennst Stefan. Bitte, tu mir den Gefallen und versuche ihn nicht aufzuregen. Er muss sich wirklich erholen.«
»Das glaub ich! Sag mal, ist dein Mann jedes Wochenende so fertig? Er sah schlimm aus!«
»Ich hab mich auch erschrocken. Er muss die ganze Nacht durchgearbeitet haben. Normalerweise springt er zumindest noch unter die Dusche, bevor er losfährt. Na ja, in ein paar Stunden ist er wieder okay. Hoffentlich lässt Finn ihn ein bisschen schlafen.«
»Wegen des zarten Gebrülls deines kleinen Sohnes würde ich mir keine Sorgen machen. Ich glaube, du könntest im Schlafzimmer eine Harley starten, ohne Stefan zu wecken.«
»Damit hast du wahrscheinlich recht.« Stefan musste wirklich eine schlimme Nacht gehabt haben, dachte Tina. »Lass uns schnell noch die Spülmaschine einräumen. Dann legen wir uns nach draußen und genießen das herrliche Wetter.«
Sophie schüttelte den Kopf. »Ich kümmere mich um das dreckige Geschirr. Du gehst schon mal vor und legst dich in die Sonne. Wer weiß, wie lange Finn dich lässt.«
»Quatsch! Wir machen das schnell zusammen und …«
»Hallo? Das war kein Vorschlag, sondern ein Befehl!« Sophie sah sie mit gespieltem Ernst an. »Ich möchte mich gern etwas nützlich machen, solange ich hier bin. Na los! Zisch ab!«
Tina hob beschwichtigend die Hände und verschwand auf die Terrasse. Was für ein Wetter! Sie ließ sich auf einen Liegestuhl fallen und streckte sich. Die Kinder jagten mit Pelle durch den Garten. Der Hund war wirklich Gold wert. Antonia und Paul vergaßen sogar, sich zu streiten. Sie war schon lange der Meinung, dass sie sich einen Hund zulegen sollten. Leider war Stefan anderer Ansicht. Er fand, dass sie mit drei Kindern schon genug um die Ohren hatte. Vielleicht würde Pelle ihn umstimmen. Der machte doch wirklich kaum Arbeit und als Spielgefährte war er spitze. Tina schloss zufrieden die Augen. Was für ein perfekter Morgen, abgesehen von dem Streit und der armen Toten am Strand natürlich. Zwei Wasserleichen in einer Woche und beide in Gold, das war wirklich ein ungewöhnlicher Zufall.
Olli kauerte in seinem Wohnmobil auf der Sitzbank und starrte ins Leere. Er hatte noch immer nicht geduscht, sondern sich nur ein frisches T-Shirt angezogen. Es war ihm egal, wenn er nach Erbrochenem stank. Sarah war tot. Er sah ihr Gesicht und das nasse Haar vor sich. Immer wieder ging er in Gedanken den Verlauf des Abends durch. Sie hatten gestritten und sie war abgehauen. Er hatte sich betrunken. Mehr war seines Wissens nicht gewesen, aber was wusste er denn noch? Die Polizei würde ihn früher oder später befragen. Was sollte er bloß sagen? Dass es kein Unfall sein konnte, weil sie nie im Leben nachts auf ihr Board gestiegen wäre? Dass irgendetwas passiert sein musste? Aber was? Und wenn die Polizei ihm nicht glaubte, dass er sein Wohnmobil in der Nacht nicht mehr verlassen hatte? Er hatte kein Alibi. Außerdem war es gut möglich, dass irgendjemand den Streit mitbekommen hatte. Warum war sie auch nicht bei ihm geblieben? Dann wäre sie noch am Leben. Immer wieder schlichen sich Erinnerungen in seine Gedanken. Wie sie lachte und ihr Haar im Wind flatterte. Ihr ernstes Gesicht, wenn sie ihr Equipment prüfte. Die kontrollierte Sarah! Sie hatte immer alles doppelt und dreifach gecheckt. Und genau diese Tatsache machte ihn jetzt wahnsinnig. Sarah wäre nie und nimmer nachts aufs Wasser gegangen. Sie hatte viel zu viel Respekt vor der See. Aber warum war sie dann ertrunken? Olli öffnete den Schrank. Irgendwo war doch noch dieser Cognac. Er brauchte dringend einen Schluck. Olli griff sich einen benutzten Kaffeebecher aus der Spüle und schenkte ihn halb voll. Der Cognac brannte wie Feuer. Als es an der Tür klopfte, zuckte er zusammen, obwohl er die ganze Zeit darauf gewartet hatte. Die beiden Polizisten, die am Morgen schon am Strand gewesen waren, standen vor seiner Tür.
»Oliver Konrad?«, fragte der ältere.
Olli nickte.
»Polizeihauptkommissar Larrson. Das ist mein Kollege Meier. Wir müssten Ihnen kurz ein paar Fragen stellen. Sie arbeiten hier als Surflehrer, richtig?«
»Mmh.«
»Heißt das ja?«
»Ja! Sorry, ich bin ziemlich fertig.«
»Sie wissen sicher bereits, dass heute eine tote Frau am Strand gefunden wurde?«
Ollis Mund war plötzlich knochentrocken.
»Wir wissen noch nicht, wer sie ist«, fuhr Larrson fort. »Vielleicht können Sie uns weiterhelfen. Sie kennen doch sicher viele der Surfer und Kiter.«
Olli schluckte. »Ich war heute Morgen am Strand. Ich habe sie gesehen. Von Weitem nur, aber ich glaube, es ist Sarah Müller.«
»Ach!«, entfuhr es Meier. Voller Elan nahm er seinen Kugelschreiber zur Hand. »Kannten Sie diese … äh … Sarah gut?«
»Ich habe ihr beim Training geholfen«, erklärte Olli. Und ich habe sie geliebt, dachte er traurig.
Larrson nickte und Meier machte sich ein paar Notizen.
»Sie war keine Anfängerin, wie diese…«, Larrson holte jetzt ebenfalls ein Notizbuch aus der Tasche und blätterte kurz darin. »Hier hab ich es. Wie diese Sandra Schmidt.«
Olli schüttelte den Kopf. »Nein, Sarah war kurz davor, Deutsche Meisterin zu werden.«
Larrson atmete tief durch und nickte. »Warum ist sie so spät noch aufs Wasser gegangen? Können Sie sich das erklären? Hat sie vielleicht Drogen genommen?«
»Nein«, antwortete Olli leise. Dann straffte er die Schultern. »Nein, Sarah war Sportlerin. Wenn überhaupt, dann hat sie mal ein Glas Wein getrunken. Aber sie war manchmal ein verrücktes Huhn. Sie liebte das Wasser.«
»Sie liebte das Wasser. Verstehe. Hatte sie Ihnen von ihren Plänen erzählt oder waren Sie nachts noch mal am Strand?«
»Ich?« Er sehnte sich nach einer Zigarette. »Nein! Ich war hier. War ein stressiger Tag. Ich meine, wir haben hier manchmal zwei Kurse am Tag, jetzt in der Hauptsaison. Ich war im Eimer.«
»Und wann haben sie Sarah dann das letzte Mal gesehen?«
Olli fragte sich, ob er gleich umkippen würde? Alles war verschwommen. »Gestern Abend am Strand«, brachte er raus. »Wir trinken da gerne noch ein Bierchen. Wenn die Sonne untergeht, wissen Sie.«
Larrson nickte voller Verständnis. »Ist klar! Wenn bei Fehmarn die rote Sonne im Meer versinkt«, sang er schief. »Sie haben uns sehr geholfen. Zumindest haben wir jetzt einen Namen. Kann sein, dass wir später noch ein paar Fragen haben. Schönen Tag!«
Endlich zogen sie ab. Er hatte es einigermaßen glimpflich hinter sich gebracht und er hatte nur ein bisschen gelogen. Sarah war kein verrücktes Huhn gewesen. Hätte er doch lieber die ganze Wahrheit sagen sollen? Nein, entschied er. Er musste jetzt vorsichtig sein. Vielleicht war er ja tatsächlich der Letzte, der sie lebend gesehen hatte.
Ben schloss das kleine Gartenhaus hinter dem Bistro auf. Die Holzbude diente Olli und ihm als Büro. Hier lagen die Bücher für die Anmeldungen und die Schlüssel für die Schuppen mit dem Equipment. Ben hatte das Bedürfnis, nach dem schrecklichen Ereignis am Morgen etwas Normales zu tun. Er musste sich ablenken. Wenn er darüber nachdachte, dass nun schon zwei Frauen tot waren, würde er verrückt werden. Die Kurse für den Tag waren gut gebucht. Noch war kein Schüler zu sehen, aber der Unterricht begann ja auch erst in einer Stunde. Wenn überhaupt noch jemand kommt, dachte Ben. Wer wollte schon an einen Strand, an dem gerade noch eine Leiche gelegen hatte? So ein Unsinn, stellte er verbittert fest. Da machte er sich wirklich zu Unrecht Sorgen. Er wusste doch, wie vergesslich die Menschen waren. Auf Phuket waren Tausende gestorben und ihre faulenden Körper hatten am Strand vor sich hingestunken. Und nur ein paar Wochen später hatten die ersten Touristen genau dort schon wieder in der Sonne gelegen. Ben schnappte sich die Schlüssel für die Schuppen. Was soll das eigentlich, fragte er sich plötzlich. Sie konnten heute unmöglich Kurse geben. Olli würde sowieso nicht in der Lage sein und außerdem wäre es geschmacklos, einfach so zu tun, als wäre nichts passiert. Er war damals geschockt gewesen, wie schnell man auf Phuket nach dieser entsetzlichen Katastrophe zum normalen Leben zurückgefunden hatte. Wenn er jetzt genauso einfach zur Tagesordnung übergehen würde, wäre er nicht besser als die, die er damals verurteilt hatte. Ben beschloss einen Zettel an die Tür zu hängen, der den Schülern mitteilen würde, dass es erst morgen weitergehen könnte. Jeder würde das verstehen. Schließlich war Sarah für viele ein unerreichbares Vorbild gewesen. Das wäre auch in Hanjos Sinne, da war er sicher. Sarah! Warum musste sie Olli auch wehtun? War das nicht alles skurril? Ben hätte fast gelacht. Jetzt war Sarah tot und brach Olli trotzdem das Herz. Was hatte Olli vorhin eigentlich gemeint? Er sei schuld? Wieso fühlte der sich schuldig? Er musste das genauer wissen. Ben schrieb schnell die Notiz und machte sich auf zu seinem Kumpel. Die Tür des Wohnmobils war verschlossen. Auf sein Klopfen regte sich nichts. »Mach auf, verdammt noch mal! Ich weiß, dass du da bist! Ich muss mit dir reden.« Endlich schnappte das Schloss und die Tür flog auf.
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