Angebote für Betroffene – unterstützte Selbsthilfe:
In Selbsthilfegruppen können Menschen mit Alzheimerdemenz und anderen demenziellen Formen von Vergesslichkeit über ihre Situation reden. Nicht alle haben ein tragfähiges privates Netzwerk oder sie möchten die Familie nicht belasten. Hier kann der Austausch mit anderen Betroffenen sehr hilfreich sein.
3 Alles wie immer! Alles wie immer?
„Liebe Mama, wie geht es dir? Du siehst gut aus, viel entspannter, als dies noch vor einem Jahr der Fall war. Du hattest immer so viele dunkle Ringe unter den Augen und jetzt ist alles weg. Darüber bin ich sehr froh. Papa und du, ihr geht lange Runden joggen, macht Spaziergänge und Radtouren. Du nimmst sogar wieder an Wettkämpfen teil. Darum beneide ich dich.
Ich wünschte, ich hätte so viel Zeit wie ihr. In den letzten Wochen der Schwangerschaft habe ich so weitergearbeitet wie bisher. Ich wollte auf gar keinen Fall, dass jemand auf die Idee kommt, ich könne meine Arbeit nicht schaffen. Ich bin gerne Mutter und liebe meine Tochter über alles, aber ich möchte doch nicht nur Mutter sein. Ich möchte gut arbeiten, sodass meine Chefs sehen, dass ich was kann. Ich wollte doch immer Journalistin sein und schreiben und erfolgreich sein, das möchte ich auch unbedingt weiterhin machen. Oder ist das egoistisch, jetzt, wo du krank bist …
Ich möchte das alles schaffen, und zwar mindestens so gut, wie du es geschafft hast. Du hast doch auch mit zwei Kindern immer gearbeitet, da werde ich das doch auch hinkriegen.
Manchmal bin ich traurig, weil du nicht mehr so richtig für mich da bist. Die Schwangerschaft ist anstrengend und ich wünschte mir, ihr würdet mich unterstützen und zu mir kommen und im Alltag mit anpacken. Papa stresst sich so wegen der Versicherung und dem Geld, dabei braucht ihr euch doch keine Sorgen machen. Das wird schon alles laufen. Aber diese unnütze Sorge macht Papa oft fahrig und das tut dir auch nicht gut. Hoffentlich ist das bald alles durch, damit in dieser Hinsicht Ruhe einkehren kann.
Ich bin oft traurig. Liegt das an den Hormonen? Die Schwangerschaft war für mich bisher eine Zeit der Ungewissheit und der Angst. Ich mache mir so viele Gedanken um meine Zukunft, meine Familie, meinen Job, dass ich gar nicht unbeschwert und glücklich sein kann. Ich freue mich sehr auf das Baby, aber ich werde oft traurig wegen dir. Wir haben eine große Feier gehabt, Omas 80. Geburtstag. Und es war wirklich ein nettes Fest. Aber ich konnte es nicht genießen. Ich musste immer wieder daran denken, dass wir deinen 80. Geburtstag auf jeden Fall nicht so feiern werden. Ich weiß nicht mal, ob wir ihn überhaupt feiern werden. Das hat mich so traurig gemacht, aber ich habe mich nicht getraut, das zu sagen. Ich möchte ja nicht mal daran denken, dass es so sein könnte.“
Während in meinem Bauch ein Baby wuchs, versuchten meine Eltern sich mit der Alzheimerkrankheit zu arrangieren. Es gab bürokratische Hürden und Fragen, die mit der Krankenversicherung geklärt werden mussten. Das machte meine Eltern unruhig. Mein Papa, der sich in all den Jahren nie um Versicherungen oder Finanzen gekümmert hatte, der nicht einmal zur Bank gegangen war, um Geld abzuheben, musste sich nun um Anträge und Rechnungen kümmern. Auf Mamas Schreibtisch, der früher immer so ordentlich war, lag nun ein Wirrwarr an ausgefüllten und leeren Anträgen, dazu Schreiben von der Krankenkasse und Versicherungen, dazwischen Schnellhefter und Ordner. Ich hätte gerne mal Ordnung gemacht. Einfach alles mal sortieren, um das Chaos zu zügeln. Aber Papa wollte keine Hilfe. „Ach, ich schaffe das schon“, sagte er, wenn mein Bruder oder ich Hilfe anboten.
Darüber war ich eigentlich auch dankbar. So sehr ich meinen Eltern anfangs helfen wollte, so sehr kam ich mittlerweile selbst an meine Grenzen. Ich war in hohem Maße mit meiner Schwangerschaft beschäftigt. Mein Bauch wurde oft hart, das Baby war sehr aktiv und strampelte viel. Ich wollte Ruhe, aber im Alltag gönnte ich sie mir nicht. Ich arbeitete weiter, mittlerweile wieder mehr Stunden, und beschäftigte mich nebenbei mit meiner baldigen neuen Familiensituation. Es sollte noch ein Mädchen werden, und ich freute mich riesig über diese Nachricht. Aber ich war auch unsicher: Wie würde es sein mit zwei Kindern? Könnte ich dieses neue Baby so sehr lieben wie meine Tochter? Ich konnte mir das nicht vorstellen. Aber alle Mütter, die mehrere Kinder haben, meinten, das wäre so. Dass man seine Liebe nicht teilen muss, sondern sie sich verdoppelt.
Ich hätte gerne mit Mama darüber gesprochen, hätte sie gerne in meiner Nähe gehabt, aber meine Eltern waren weit weg und igelten sich ein. Sie wollten nicht zu uns kommen, bis sich das mit der Versicherung geklärt hatte. Meinen Papa plagte noch immer Sorge, dass Mamas Krankenversicherung die Kosten für die Alzheimermedikamente nicht übernehmen würde. Zu Beginn hatten sie die Rechnungen nämlich zurückgewiesen. „Das kann doch nicht sein“, sagte ich. „Die müssen das übernehmen“, meinte mein Bruder. Wir waren da zuversichtlich, aber Papa sorgte sich sehr. Auch der Rentenbescheid war noch nicht durch. Diese finanzielle Unsicherheit stresste ihn. Was konnten wir tun? Nicht viel mehr als ihn bestätigen, denn Papa wollte nichts aus der Hand geben. „Ich mache das schon“, ließ er uns immer wieder wissen, wenn wir Hilfe anboten.
Ich weiß, er wollte stark bleiben und alles alleine meistern und seinen Kindern nicht zur Last fallen. Aber das machte mich auch traurig. In den letzten Wochen meiner Schwangerschaft hätte ich meine Eltern gerne häufiger gesehen. Ich schlief nachts schlecht, das Baby war dann wahnsinnig aktiv, und tagsüber kam ich nicht zur Ruhe. Meine Tochter wollte mit mir spielen und natürlich ging ich mit ihr nachmittags nach dem Kindergarten auf den Spielplatz oder spielte im Garten, auch wenn ich eigentlich nur liegen wollte. Ich wollte stark bleiben in meinem Job-Kind-Alltag – und so telefonierte ich vor allem mit meinen Eltern. Mama ging wie immer ans Telefon, wir erzählten von unserem Tag, von den kleinen Dingen und vom Wetter. Alles in fröhlichem Plauderton, und es war so schön, ihre Stimme zu hören. Aber danach habe ich oft geweint. Dennoch: Das Baby in meinem Bauch gab mir Kraft und Mut.
Meine Mama lenkte sich ab. Zu Weihnachten hatte ich ihr Leinwände und Acrylfarben geschenkt. Und was malte meine Mama? Tauben. Blaue Tauben. Bunte Tauben. Tauben, die ihre Flügel ausbreiteten und flogen. Diese Tauben hatten fulminante Flügel. Wünschte sich Mama, ihre Flügel ausbreiten und der Krankheit davonfliegen zu können?
Nein, sie lief ihr davon. In ihrer Kindheit und Jugend war Mama eine erfolgreiche Leichtathletin gewesen. Ihre Paradedisziplin waren die 400-Meter, und sie war im ganzen Bezirk die Beste darin gewesen. Zu einem Sportfest durfte sie die Fackel ins Stadion tragen. Davon gibt es ein Foto, das ich oft bewundert habe. In meiner Jugend war ich auch in einem Leichtathletikverein, dem selben wie meine Mama Jahre zuvor, und habe zeitweise fast täglich trainiert. Ich war sehr gut und habe viele Medaillen gewonnen, aber so schnell wie meine Mama war ich nie gelaufen. Den Beleg dafür hatte ich schwarz auf weiß. In meiner Jugend hatte Mama mir ihr Wettkampfheftchen von früher geschenkt. Darin hatte sie fein säuberlich mit Füller jeden Wettkampf festgehalten: das Datum, den Ort, ihre Disziplinen und die Zeiten, die sie gelaufen war. Daneben stand, wenn sie eine persönliche Bestzeit gelaufen war, einen Rekord aufgestellt oder den ersten Platz belegt hatte (was sehr häufig war).
Sechs Jahre zuvor waren Mama und ich einen Halbmarathon gelaufen. Ich hatte mit dem Laufen nie wirklich pausiert, manchmal war es etwas weniger, dann wieder mehr. Seitdem ich in München lebte und arbeitete, lief ich wieder regelmäßig. Mama hatte als Sportlehrerin einen aktiven Alltag, aber das regelmäßige Laufen hatte sie erst im Jahr vor dem Halbmarathon wieder aufgenommen. Seitdem gehörte ihr Hobby wieder zu ihr und auch mit Alzheimer lief sie. Papa begleitete Mama beim Laufen, entweder lief er auch oder fuhr mit dem Rad.
Читать дальше