Jack blickte zu Lively, doch seine Schwester zögerte keine Sekunde.
»Sehr gerne, Schwester. Heute ist die letzte Gelegenheit, in der wir in Erinnerungen an die Vergangenheit schwelgen können.«
Jack verengte die Augen und starrte seine Schwester von der Seite an, doch diese ging nicht darauf ein und folgte Josepha, die unter leise murmelnden Worten das Haus umrundete. Lively packte Jack ohne einen Blick in seine Richtung am Arm und zog ihn mit sich.
»Lively, ich weiß nicht ...«
»Sei still und komm mit«, entgegnete sie und starrte auf den Boden. Jack folgte ihrem Blick und versuchte, nicht über eine der Wurzeln zu stolpern, die die Steine des Gehwegs schon vor Jahrzehnten aufgebrochen hatten. Wahrscheinlich hatte die Kirche Recht, dass sie in diesen Ort hier kein weiteres Geld investieren wollte. Er sehnte sich nach dem Sessel am Kamin, in dem nur ein gutes Buch und keine unliebsamen Erinnerungen auf ihn warteten.
Er entriss seinen Arm Livelys klammerndem Griff und zog den Kragen seines Mantels um den Hals zusammen, um sich vor aufmüpfigen Regentropfen zu schützen.
Eine kleine Tür führte seitlich in die Räumlichkeiten, die Schwester Josepha gemeinsam mit den anderen Angestellten des Kinderheims bewohnt hatte. Sie betraten den schmalen Flur, der von einer brennenden Kerze auf einem Seitentisch schwach beleuchtet wurde.
Lively schälte sich aus ihrem nassen Mantel und hängte ihn an die Halterung neben der Tür. Jack zögerte einen Moment, hätte er seinen Mantel doch lieber anbehalten, um schnellstmöglich wieder aufbrechen zu können. Doch der strenge Blick seiner Schwester zeigte ihm, dass es keine Chance auf Entkommen gab. Mit einem Seufzen legte auch er seine Jacke zur Seite, während Lively der ehemaligen Heimleiterin in die Küche folgte. Seinen Zylinder legte er darunter ab.
Jack ging auf die Tür zu, bis sein Blick an der Kerze hängenblieb. Sie flackerte wild und beschien die hölzerne Marienfigur hinter ihr beängstigend. Die Schatten im Gesicht der heiligen Jungfrau sahen aus, als würde sie schwarze Tränen weinen.
Jack erschauderte und wandte sich von der Figur ab. Seit er das Kinderheim verlassen hatte, hatte er nie wieder eine Kirche von innen gesehen.
Als er die kleine Wohnküche betrat, hatte Josepha den Feuerherd bereits mit ein paar weiteren Scheiten bestückt und eine gusseiserne Kanne auf die Oberfläche gestellt. Es roch leicht nach Kamille, einem Duft, der auch der Ordensschwester immer anhing. Jack erinnerte sich nur zu gut daran, wie sie früher jedes Wehwehchen mit einem ihrer Kräuteraufgüsse behandelt hatte – von Prellungen bis Übelkeit. Das schien sich in den letzten Jahren nicht geändert zu haben, denn von der Decke hingen die verschiedensten Pflanzen getrocknet und ordentlich in kleinen Büscheln nebeneinander.
Jack zog den Kopf ein, bevor er sich seiner Schwester gegenüber an den Tisch fallen ließ. Er verengte die Augen und warf ihr einen halb scherzhaften bösen Blick zu, doch Lively verdrehte nur die ihren und grinste ihn herausfordernd an.
Josepha kehrte zu ihnen zurück, den Rücken gebeugt. Die Sorgenfalten auf ihrer Stirn verrieten, dass sie etwas beschäftigte. Mit einem energischen Kopfschütteln ließ sie sich auf dem freien Stuhl nieder. »Einfach geschlossen.« Sie senkte den Blick auf ihre Finger, die sie ineinander verschränkte. »Sie haben es einfach geschlossen. Wir sind ihnen vollkommen egal. Die Kinder sind ihnen vollkommen egal. Das Einzige, was ich bekommen habe, war ein Brief. Sie hatten noch nicht einmal den Anstand, es mir persönlich mitzuteilen.«
»Und wo werden Sie jetzt hingehen?«, fragte Jack und Mitleid regte sich in ihm. Für Schwester Josepha war dieses Kinderheim alles. Sie hatte es in jungen Jahren von ihrer Vorgängerin übernommen und es seitdem mit eiserner Hand und einiger Bestimmtheit geführt. Auch wenn er keine schöne Zeit hier verbracht hatte, hatte das sicher nicht an Schwester Josephas Engagement gelegen.
Josepha stieß einen herzzerreißenden Seufzer aus. »Ich gehe zurück ins Kloster. In mein Heimatkloster.« Ihrem Gesichtsausdruck zufolge war Heimat hier nicht mit positiven Gedanken behaftet.
»Wo liegt das?«, fragte Lively.
»In Barrytroot«, antwortete Josepha und kniff die Lippen so fest zusammen, dass alles Blut aus ihnen wich. Nun konnte Jack ihren Unmut noch besser nachempfinden. Barrytroot war eine winzige Hafenstadt, weit abgelegen und den Erzählungen nach zu urteilen der Inbegriff von Langeweile. Ein Exil, das nichts mit dem Trubel des Kinderheims gemein hatte.
»Sicherlich wird es nicht so schlimm, wie Sie denken. Sie können alte Freunde wiedertreffen und ...«
»Alte Freunde.« Schwester Josepha spuckte die Worte aus wie eine Beleidigung. »Dass ich nicht lache. Eher Speichellecker und hirnlose Gottesanbeterinnen.«
Jack stutze. Was für eine Ausdrucksweise für eine Nonne!
»Gott im Himmel! Ich war froh, ihnen und ihren beschränkten Welten entkommen zu sein. Und nun kehre ich zurück. Gescheitert.«
»Es ist doch nicht Ihre Schuld, dass das Waisenhaus schließen musste.« Lively rückte das Haarband auf ihrem Kopf zurecht. »Jeder weiß, was Sie hier für eine gute Arbeit geleistet haben.«
»Ja, das sagen sie auch. Das stand auch in dem Brief.« Sie seufzte und erhob sich, um das Teewasser vom Herd zu nehmen. »Aber in Wahrheit gibt es doch keinen anderen Grund. Ich hätte es besser machen müssen. Ich hätte es verhindern können.«
»Das wissen Sie doch gar nicht.« Lively richtete sich auf ihrem Stuhl auf. »Das kann alle möglichen Gründe haben, die Sparmaßnamen der katholischen Kirche voran ...«
Josepha hob eine Hand und Lively verstummte. Jack schmunzelte, denn es war schon eine Seltenheit, dass sich seine Schwester von jemandem maßregeln ließ.
Die Nonne lächelte ihr milde zu, griff nach der Kanne und goss den Tee in drei Becher. Danach brachte sie sie zum Tisch. Skeptisch betrachtete Jack die Brühe in dem Gefäß vor ihm, hob es hoch und roch probehalber daran. Nebenbei sah er, wie sich Lively wieder über den Tisch und in die Richtung von Schwester Josepha vorbeugte. Dieser Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.
»Und nun ist das Haus leergeräumt? All die Möbel, die Bücher ... die Akten?«
Fassungslos starrte Jack sie an und bemerkte erst nach wenigen Sekunden, dass sein Mund offenstand. Wie dreist konnte man sein? Er blickte zu Schwester Josepha, die jedoch von Livelys offensichtlichen Hintergedanken nichts mitbekommen zu haben schien.
»Sie haben alles mitgenommen.« Schwester Josepha nickte bestätigend. »Alles, was sich noch zu Geld machen lässt.« Nachdenklich nahm sie einen Schluck Tee. »Die Akten holen sie in den Abendstunden ab. Ich muss sie noch in Kisten packen.« Bei diesen Worten schüttelte sie den Kopf.
»Nur die Akten der aktuellen Kinder oder auch der ehemaligen?«
Jack legte den Kopf schief, verengte die Augen und fixierte seine Schwester, die ihn jedoch geflissentlich ignorierte. Wieso wollte sie die Akten haben? Was erhoffte sie darin zu finden? Eine Dokumentation über all die Streiche, für die sie im Kinderheim bestraft worden war?
»Alle Akten«, antwortete Josepha. »Ich bin mir aber sicher, dass sie die alten verbrennen werden. Was kümmert sie meine jahrelange Arbeit und Sorgfalt?«
Jack hob den Becher an seine Lippen und nippte an der heißen Flüssigkeit. Sie schmecke nicht so schlecht, wie er Josephas Kräutervariationen im Gedächtnis gehabt hatte. Er fixierte seine Schwester. Noch wusste er nicht ganz, was sie im Schilde führte, aber er würde es sicherlich bald herausfinden.
»So ein Ärger. Diese verdammten Kirchenbeamten ...« Lively schüttele übertrieben empört den Kopf, doch Schwester Josepha verengte die Augen und fixierte sie.
Sie schwieg einige Sekunden, dann hoben sich ihre Mundwinkel. Ihre Stimme war fast beängstigend ruhig. »Es tut mir leid, Liebes. Aber ich werde euch eure Akten nicht geben.« Sie neigte den Kopf wie zur Bestätigung und nahm einen tiefen Schluck aus ihrem eigenen Becher.
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