Die römische Provinz Raetia
Im Sommer des Jahres 15 v. Chr. unterwarfen die römischen Truppen unter Tiberius und Drusus, den beiden Adoptivsöhnen des Augustus, in schnellem Vorstoß die rätischen und vindelikischen Stämme in den Alpen und deren nördlichem Vorfeld, ohne auf große Gegenwehr zu treffen. Der militärischen Besetzung durch kleinere Lager – eines bei Oberhausen an der Wertach als frühester Siedlung im Raum Augsburg – und ersten Straßenbauten folgte unter Kaiser Tiberius (14–37 n. Chr.) der Ausbau der erster Niederlassungen in Bregenz (Brigantium) , Kempten (Cambodunum) und auf dem Auerberg (Damasia?) , den alten keltischen Vororten. Kempten, die Stadt auf dem Lindenberg, wurde zum ersten Sitz des Prokurators der Provinz Raetia (et) Vindelica . Ob es die splendissima Raetiae provinciae colonia des Tacitus (41,1) war oder damit schon das frühe Augsburg gemeint war, darüber streiten sich die Historiker noch. Das Erscheinungsbild Kemptens war jedenfalls imponierend.
Die römische Provinz Raetien um 200 n. Chr. (nach Dietz u. a.)
Cambodunum
„Ein System rechtwinkliger Straßen gliedert den zentralen Bereich der Stadt in zehn meist längsrechteckige Häuserblöcke, in so genannte insulae . Als Bewohner der einzelnen Hausparzellen einer insula dürfen wir Händler und Wirtsleute annehmen, zu Vermögen gekommene Handwerker ebenso wie den Besitzer eines größeren Landgutes, der hier sein Stadthaus hatte, und wohl auch den einen oder anderen Reichsbeamten. Zu den Hauptstraßen hin waren die Häuser mit Portiken, einer Art überdachter Gehsteige versehen. Außerhalb des orthogonalen Straßensystems angelegt sind die Bauten am Südrand der Stadt, vor allem aber die nördliche und südliche Vorstadt …
Um die insulae herum ist eine Reihe von öffentlichen und halböffentlichen Bauten gruppiert: Außerhalb der Hauptausrichtung des Straßensystems lieg(en) ganz am Rande des Illerhochufers der ‚Gallorömische Tempelbezirk‘ … und die so genannten ‚Großen Thermen‘ mit einer Fläche von ca. 4500 m 2…
Das forum selbst fügt sich in seiner letzten Ausbauphase mit einer kleinen Abweichung ebenfalls in das zentrale Raster des Stadtgrundrisses ein. Über einen eigenen Torbau, eine Art Propylon , gelangte man direkt in die Säulenhalle, die den ca. 37 x 69 m großen Hof auf allen vier Seiten umschloss. Aus den Gebäuden, die diesen Hof umgaben, ragen drei besonders hervor: die dreischiffige basilica , die Gerichtshalle, an die im Nordwesten wohl das Archiv der vier in der basilica tätigen Magistrate anschloss, als zweites die curia , der Versammlungsraum des ordo decurionum , des Gemeinderats, und schließlich auf der gegenüberliegenden Schmalseite des Hofes der Forumtempel, wohl der kapitolinischen Trias Jupiter, Juno und Minerva geweiht …“ (Gerhard Weber)
Die Römer fanden keine dichte Besiedlung in Schwaben vor, und die Ortsnamen keltischen Ursprungs wie z. B. Cambodunum verweisen eher auf eine ‚Integrationspolitik‘ der Römer; sehr schnell wurden auch mit Rätern und Vindelikern eigene Kohorten des Heeres gebildet. Sie drangen nach Norden zunächst bis zur Donau vor, dann unter den flavischen Kaisern, insbesondere unter Trajan (98–117) und Hadrian (117–138), bis über die Alb hinaus. Der steinerne Limes mit seinen Kastellen und Wachttürmen markierte nun die Grenze zwischen der römischen Welt und den Barbaren des freien Germanien – und umschloss Schwaben von Aalen über Weißenburg bis Eining a. d. Donau. Die Provinz Raetien reichte freilich nach Westen bis zur oberen Donau und zum Bodensee, nach Süden bis zu den Alpenübergängen des Simplon und Splügen, über den Reschen und Brenner hinaus und bis zum Inn nach Osten. Die Erschließung mit einem relativ engmaschigen Straßensystem aufwendiger Kunststraßen folgte den geographischen Leitlinien. Das Rückrat war dabei zweifellos die Via Claudia im Lechtal, deren Trasse, 46/47 fertiggestellt, über Füssen (Foetibus) , den Fernpass und den Reschen in großen Teilen rekonstruiert werden konnte und stellenweise sogar noch zu sehen ist. Sie erhielt eine Variante östlich des Lech, die dann über Partenkirchen nach Süden verlief, und eine weitere Nord-Süd-Linie folgte der Iller bzw. führte von der Donau bei Rißtissen an den Bodensee; eine wichtige Querverbindung kreuzte von Kempten über Epfach (Abodiacum) nach Osten, und weitere Hauptstraßen vernetzten Rätien mit den übrigen Hauptorten nördlich der Alpen. Zahlreiche Straßen- und Übernachtungsstationen ermöglichten Ruhepausen und Pferdewechsel. Lech und Donau boten für Schwerlast auf Kähnen bzw. Flößen leichtere Transportmöglichkeiten, wobei in Augsburg vor kurzem auch dazugehörige Hafenanlagen ergraben wurden.
Als Augsburg am Anfang des 2. Jahrhunderts die führende Rolle Kemptens als Residenzstadt übernahm, war es noch primär Truppenstützpunkt des römischen Statthalters, wohl 120/21 erhielt es das Stadtrecht und firmierte damit als municipium Aelium Augusta Vindelicum mit einer selbständigen Verwaltung: eine Stadt von 10–15 000 Einwohnern mit repräsentativen öffentlichen Steinbauten, einer künstlichen Wasserversorgung aus dem 35 km entfernten Hurlach und seit dem Ende des 2. Jahrhunderts auch einer Steinmauer.
Das pulsierende Leben prägten nun nicht nur die Militärs, sondern die Kaufleute mit einer breit gestreuten Warenpalette von wertvollen Stoffen bis zu Orientwaren, zusammengehalten von Korporationen unter einem Dachverband der negotiatores municipii . Und diese reiche Oberschicht baute sich auch ihre gediegen ausgestatteten Landsitze, die villae rusticae , im unmittelbaren Umland und dann weiter ausgreifend an den Flussterrassen, bevorzugt der Friedberger Lechleite. Von den großen Gutshöfen kamen die Lebensmittel in die Stadt, aber das Land verfügte auch über umfangreiche Produktionsstätten für Industriewaren. Besonders herausragend war das Töpferdorf Rapis (Schwabmünchen) an der Straße nach Kempten.
Das Töpferdorf Rapis
„Die günstige Verkehrslage, geeignete Tone und ausgedehnte Wälder in der Umgebung sowie zugewanderte Töpfer aus Gallien haben spätestens seit flavischer Zeit dem Keramikhandel zu einer Blüte verholfen, die weit über die Grenzen Rätiens hinaus gewirkt hat. Das über 200 m lange Straßendorf auf der Hochterrassenkante und am Straßenanstieg wurde spätestens um die Mitte des 1. nachchristlichen Jahrhunderts gegründet … Das Töpferdorf zählte im 2. Jahrhundert mindestens ein Dutzend Familien, die in ebenso vielen Landhäusern aus Holz lebten und arbeiteten … Über 70 Töpferöfen mit einem Füllvolumen von jeweils einem Kubikmeter sind bisher freigelegt und untersucht worden … Aus der Blütezeit des späten 2. Jahrhunderts sind durch Fabrikantenstempel auf den produktionstypischen Reibschüsseln einige Namen Schwabmünchner Töpfer und Töpferfamilien bekannt …, die zum Teil aus dem keltischen Milieu, zum Teil aus dem Sklavenmilieu stammen. Hergestellt wurde neben allen gängigen Formen des rauwandigen Haushaltsgeschirrs für Vorratskeller und Küche vor allem feines Tischgeschirr.“ (Wolfgang Czysz)
In Westheim bei Augsburg fand sich eine kaiserliche Ziegelei, ein Staatsbetrieb, der neben den üblichen verschiedenen Formen von Ziegeln für Bau, Dach oder Fußbodenheizung – mit Stempelmarken versehen – auch Tonmedaillons, Backformen und Öllampen herstellte; eine Spezialität war Tontafelgeschirr als Kopien von aufwendigen Metallgefäßen.
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