Thomas Sautner - Fuchserde

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Schon seit ihrer Kindheit ist Frida der charismatische Mittelpunkt einer grossen Familie. Angstlos nach dem frühen Tod ihrer Mutter, sorgt sie mit ihrer ungezähmten Art für Kopfschütteln bei den Bewohnern des kleinen Dorfes, in dem sie lebt. Kein Mann ist ihr recht, und kein Mann kann ihr widerstehen. Frida ist eine Jenische – Angehörige eines beinahe in Vergessenheit geratenen fahrenden Volkes. Über Generationen hinweg haben ihre Vorfahren schon im «Biberling», den kalten Monaten, ihre einfachen Hütten bewohnt, um dann im «Hitzling», in dem die Sonne zunehmend an Kraft gewinnt, wieder mit ihren Pferdewagen loszuziehen.
Es ist ein rau-romantisches Leben, das Frida und die Ihren führen, mit dem Sternenhimmel als Dach, geheimnisvollen Geschichten am Feuerplatz und einer Sprache, die den Sesshaften Rätsel aufgibt. Ihren Lebensunterhalt verdienen die Fahrenden noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts als Scherenschleifer, Besenbinder, Pfannenflicker, als Wahrsagerinnen oder als Kräuterfrauen. Sie fühlen sich frei wie der Wind. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten aber setzt eine dramatische Zäsur im Leben der Familie, die versucht, der Vernichtung zu entrinnen: mit Hilfe uralten Wissens, schier waghalsigem Humor und unbändiger Kraft.
Thomas Sautner erzählt die Geschichte zweier Familien, deren Schicksale durch die Liebe ihrer Kinder miteinander verknüpft werden und deren Alltag vom tiefen Verstehen der Natur geprägt ist, von wunderbaren Weisheiten und vom Leben mit den Jahreszeiten. Das nördliche Waldviertel, mystisch-schön mit seinen ausgedehnten Wäldern, dunklen Teichen, tiefen Mooren und den Jahrmillionen alten markanten Restlingen aus Granit ist dabei mehr als bloß der Schauplatz eines grossen Familienromans.

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Fuchserde - изображение 1

Copyright © 2006 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

6. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung: © Getty Images/Hulton Collection

ISBN 978-3-7117-2115-0

eISBN 978-3-7117-5460-8

Informationen über das aktuelle Programm

des Picus Verlags und Veranstaltungen unter

www.picus.at

Thomas Sautnerwurde 1970 in Gmünd geboren, heute lebt er im nördlichen Waldviertel sowie in Wien. Neben zahlreichen Essays und Erzählungen erschienen im Picus Verlag auch seine Romane »Milchblume«, »Die Älteste«, »Das Mädchen an der Grenze«, »Großmutters Haus« und 2021 »Die Erfindung der Welt«.

www.thomas-sautner.at

THOMAS SAUTNER

Fuchserde

ROMAN

PICUS VERLAG WIEN

Für Martin

Eine ferne, verlorene Welt ist niemals verloren und fern, wenn jemand sie noch im Herzen trägt .

ALBERTO CAVALLARI

Inhalt

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

Kapitel 16.

Glossar

Dank

1.

Als Franz Jandrasits bereits bis zum Hals im Moor versunken war, kroch der Frühnebel aus dem Wald. Feucht und behutsam wälzte sich der üppige Dunst über die taunasse Wiese, schluckte das Schilfgras am Übergang zum Moor und verschlang schließlich sehr sorgfältig die gesamte Lichtung. Und das Moor verschlang Franz Jandrasits.

Seine Kräfte hatten ihn vor Sonnenaufgang verlassen, waren mit jeder verzweifelten Ruderbewegung aus seinem aufgeweichten Körper entschwunden. Seine Schreie, anfangs hysterisch und kreischend, wurden von Stunde zu Stunde leiser, seine Stimme kippte immer öfter. Am Schluss krächzte er nur noch, jammerte leise vor sich hin und weinte. Er weinte nicht seinetwegen. Er dachte an seine beiden Kinder und an seine junge Frau, die am anderen Ende des Waldes auf ihn wartete, die verzweifelt sein musste und es nun vielleicht ein Leben lang bleiben würde, seinetwegen. Warum war er nur so töricht und unersättlich gewesen, wieso nur hatte er sich nicht zufriedengegeben mit dem Flecken Land, den der Graf zur Urbarmachung für ihn und seinesgleichen vorgesehen hatte.

Die anderen Strafgefangenen hatten nichts vom Verschwinden Franz Jandrasits’ bemerkt. Und hätte seine Frau die müden Männer nicht an den Haaren gerissen, gekratzt und gebissen, um sie dazu zu bewegen, ihr bei der Suche zu helfen, hätten die Hände des Franz Jandrasits wohl noch lange unbemerkt aus dem Moor geragt. Der starke Regen hatte sie rein gewaschen vom Moorschlamm, hatte auch den letzten Schmutz aus den tief zerfurchten Pranken gespült, und so sahen die gen Himmel gestreckten Handflächen von der Ferne aus wie zwei weiße Porzellanteller, die jemand an der feuchten Oberfläche des Moores abgestellt hatte.

Die blütenweißen Handflächen inmitten des sumpfigen Morasts waren es auch, die die Männer glauben ließen, Franz Jandrasits sei nicht qualvoll und stundenlang um sein Leben kämpfend im Moor versunken, sondern mit einem einzigen gewaltigen Ruck vom Moorgeist nach unten gezogen worden. Bestätigung fanden die Männer, als die Hände des Franz Jandrasits nicht etwa langsam dem übrigen Körper ins Moor folgten, sondern plötzlich und begleitet von einem dumpfen Gurgeln, sowie dem Aufsteigen einer an der Oberfläche zerberstenden Blase, vom Moor eingesaugt wurden. »Jetzt hat er ihn ganz geschluckt!«, war die Reaktion der Umstehenden, deren Erschrecken rasch dem beruhigenden Gefühl wich, dass die Tragödie einen durchaus konsequenten Abschluss gefunden hatte: Der Moorgeist hatte sein Opfer restlos verspeist.

»Holt ihn raus! Holt mir meinen Mann!«, schrie Jandrasits’ Frau die Männer an, die mit offenen Mündern dastanden. Doch der Graf ließ keine unnützen Gedanken und ebenso zeitraubende wie riskante Eskapaden mehr zu: »Zurück!«, befahl er kurz, zerrte an den Zügeln und trabte voran, in die Richtung des Siedlungsgebiets.

Franz Jandrasits’ Frau kniete noch stundenlang im Gras und starrte auf die Stelle, an der ein Teil von ihr im Morast versunken war. Rund um sie trockneten Sonnenstrahlen die regennassen Halme. Die Vögel begannen lautstark ihr Tagwerk und ihre beiden Kleinen, die nun nur noch die ihren waren, spielten vergnügt im Gras.

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1799 vergab Graf Vinzenz von Straßoldo, Eigner der Herrschaft Schwarzenau im nördlichen Waldviertel, in einem besonders entlegenen und unwegsamen Flecken seiner Besitzungen stückweise Land an eine Hundertschaft von Menschen. Viele davon wurden im Volksmund als Gesindel und Zigeuner beschimpft. Es waren Männer und Frauen, die wegen Delikten wie Mundraub, Raufereien, Anpöbelungen der Obrigkeit, kleineren Diebstählen und anderen Übertretungen in Ungnade gefallen waren. Unter ihnen waren Sinti und Jenische, Angehörige des fahrenden Volkes. Diesen Menschen bot Graf Vinzenz von Straßoldo folgenden Tauschhandel an: Wenn sie innerhalb von drei Jahren die raue Gegend, vorwiegend Wald- und Moorland, urbar machten, also rodeten und trockenlegten, sowie darauf Häuser erbauten, würde er ihnen die Freiheit schenken .

Die fortan Kleinhäusler genannten Siedler nahmen das Angebot an und bearbeiteten das ihnen zugeteilte Land. Gut drei Jahre später, 1803, bestand der Ort tatsächlich und wurde der fünf Kilometer entfernt liegenden Pfarre Langegg zugeteilt. Und weil der Graf nicht nur hoch- und wohlgeboren war, sondern auch Obrist-Hofmeister der Erzherzogin von Österreich, der durchlauchtigsten Frau Amalie, bekam der arme und teils vom Pöbel gegründete Ort einen wahrhaft funkelnden und fürstlichen Namen: Amaliendorf .

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Leg noch zwei Scheit Holz in den Ofen, kleiner Fuchs. Weißt du, wenn jemand ein Lebtag lang gefroren hat, genießt er die Wärme umso mehr. Und dann setz dich zu mir. Ich weiß doch, dass du gekommen bist, um noch mehr zu hören. Ja, so ist es gut. Es wärmt schon, allein das Knacken des Holzes im Ofen zu hören. Früher wurde ja noch mit Torf geheizt. Aber das ist lange her. Das war, als deine Vorfahren hier herauf ins Waldviertel gekommen sind. Die älteste Geschichte über deine fahrenden Ahnen stammt aus jener Zeit, mein kleiner Fuchs. Wie könnte es bei uns anders sein, handelt die Geschichte von einer Reise. Allerdings einer ganz besonderen Reise.

Es begann schon damit, dass es nicht deine Verwandten waren, die sich für die Fahrt entschieden hatten. Es war auch nicht ihr armseliger, klappriger Karren, mit dem sie fuhren. Diesmal reisten sie mit einem mächtigen Wagen; einem Wagen, der keinen Geringeren gehörte als den Habsburger Regenten und der von einem Kutscher gelenkt wurde, in dem blaues Blut floss. Der Name des Kutschers war Graf von Straßoldo. Die strengen Maßstäbe, die der Graf in puncto Anstand und Ordnung anlegte, und zwar an sich zumindest ebenso wie an die gesamte Welt, für deren moralische Entwicklung er sich verantwortlich fühlte, diese Maßstäbe hatten ihm ein lästiges Leiden eingebracht. Es entlud sich des Öfteren durch Nervenzucken in seinem Gesicht, was der Graf mit Haltung über sich ergehen ließ.

Das Entscheidende aber, das diese Fahrt so außergewöhnlich machte, habe ich dir noch nicht erzählt, mein kleiner Fuchs. Das Entscheidende war: Diese Reise sollte die letzte deiner fahrenden Ahnen sein. Die letzte Reise von Menschen, deren ureigenste Lebensform seit Generationen immer nur das Reisen gewesen war. Es sollte die allerletzte Fahrt dieser Jenischen sein. So wollte es der Graf. So wollte es die große österreichisch-ungarische Monarchie. Aber du weißt ja, mein kleiner, schlauer Fuchs: Fahrende kann man nicht aufhalten, nicht auf Dauer. Ebenso wenig wie man Wasser aufhalten kann. Es findet seinen Weg.

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