Es hatte schon Nächte gegeben, in denen es bis zum Morgengrauen so ging: von einer Gemeinde in die andere, und wieder retour. Für die beiden Gendarmen war der einfache Trick neu. Die rasche Lösung der Angelegenheit irritierte sie. Also setzten sie sich einige Meter neben dem Karren der Jenischen ins Gras, und es dauerte eine Weile, bis sie schließlich begreifen mussten, dass ihnen nun von Gesetzes wegen keinerlei Handhabe mehr gegen die Fahrenden blieb. Für Lilli dauerte die Nachdenkpause der beiden zu lange. Ihr Kind wollte nicht länger warten. Und da die beiden Gendarmen keine Anstalten machten, sich auch nur ein paar Zentimeter von der Stelle zu bewegen, lief sie, ihren prallen Bauch mit den Händen haltend, auf den nahen Hügel und verschwand hinter ein paar Haselnusssträuchern. Keine halbe Pfeifenlänge verging, da tauchte sie wieder auf. Ihr Mann, ihre Kinder und die beiden Gendarmen sahen sie vom Hügel herunterkommen. Ihre nackten Füße schienen über die Wiese zu schweben. Ihre Sohlen streichelten vom Himmel her das Gras. Ihr offenes, rabenschwarzes Haar war eins mit dem Wind und ihre goldenen Ohrringe glänzten im Sonnenlicht. Sie hatte ihren knöchellangen, schmetterlingsbunten Rock nach oben gerafft, sodass man ihre schönen Beine bis weit über die Knie sehen konnte. Lillis Gesicht war Entspannung und ihr Lachen der Frühling. Im Rock trug sie ihren Sohn. Zu Ehren des Ururgroßvaters, der einst im Moor versunken war, als er für die Familie Land gesucht hatte, sollte er Franz heißen.
Fünf Wochen war es nun her, dass sie von Amaliendorf aufgebrochen waren. Während der ersten Frühlingstage hatten sie ihr Hab und Gut und all die Tandlerwaren, die in den letzten Monaten fabriziert worden waren, auf den Karren gepackt. Sie hatten ihrem guten, alten, zotteligen Hund das Geschirr umgelegt, damit er beim Ziehen helfen konnte, und waren Richtung Süden aufgebrochen. Den ganzen langen Winter über hatten die Frauen und Mädchen aus unansehnlichen Fetzen, aus Stoffund Wollresten bunte Kleider, hübsche Schürzen und Tischdecken, schöne Westen und Umhänge gezaubert, hatten gestrickt und gehäkelt. Hatten die unzähligen getrockneten Heilkräuter sortiert, die sie im Wald und im Moor gesammelt hatten, bevor der Schnee die Landschaft so fest einschloss, als wollte er sie nie wieder freigeben. Sie hatten die Kräuter im hölzernen Mörser zerstampft und sie anschließend fein säuberlich in kleine Stoffsäckchen verschnürt. Die Männer und die Buben wiederum hatten Holz mit Flacheisen und Feilen bearbeitet, auf dass handelbare Holzschuhe daraus würden, sie hatten unzählige Besen gebunden, mehrere Dutzend Körbe und Schwingen geflochten und kurzstielige Pfeifen geschnitzt.
Gemeinsam war die ganze jenische Sippschaft bei der Arbeit in der kleinen Stube zusammengehockt, dem einzigen Zimmer im Haus, das dank des behelfsmäßigen Ofens und des darin verheizten Torfs zumindest so warm gehalten werden konnte, dass man den eigenen Atem nicht mehr sah. Was aber noch behaglicher wärmte, waren die Geschichten und Märchen, die von der Ältesten erzählt wurden. Sie war die Einzige, die nicht Hand anlegte, und dennoch durfte sie am nächsten zum Ofen sitzen. Ihr Zutun war nämlich nicht minder wichtig für das Gelingen der Arbeiten, und das war allen bewusst. Um aber ganz sicherzugehen, erwähnte die Alte eine ihrer Weisheiten besonders häufig: »Alles Gute, was man tut, ist seines Lohnes wert«, beendete sie viele ihrer Geschichten und beobachtete mit Wohlgefallen das stumme Nicken der anderen.
Als Lilli und ihr Mann samt den Kindern und dem Ungeborenen aufgebrochen waren, war ihr Karren so hoch mit Hausrat und anderen Handelswaren beladen, dass zu fürchten stand, der klapprige Wagen könnte beim erstbesten Windstoß oder beim nächsten Schlagloch umkippen. Nahrung hingegen führten sie kaum bei sich. Für nur drei Tage wurde Proviant geladen. Mehr sollte schließlich und endlich auf der Reise erbettelt oder vorteilhaft gegen Ware eingetauscht werden.
Beim Abschied von den anderen, die in den nächsten Monaten die kargen Felder zu bewirtschaften haben würden, flossen Tränen. Ein Wiedersehen würde es erst in gut einem halben Jahr geben, dann, wenn die Tage fürs Herumziehen zu kurz und zu kalt würden, dann, wenn bald die Raunächte übers Land kämen, knapp vor dem nächsten Winter – also noch lange, lange nicht. Denn dieser Winter war gerade erst dabei, sich widerwillig zu verabschieden, mit den letzten Schneeresten, die an den Wegböschungen der schwachen Sonne trotzten.
Bevor der Wagen losrollte, umarmten einander alle und die Älteste steckte Lillis Mann beim Abschied einen alten, zusammengeschrumpelten Erdapfel in die Manteltasche. Worte verlor sie darüber keine.
Die Herkunft der Jenischen ist nicht restlos geklärt. Vermutet wird, dass sie, anders als andere Fahrende, etwa Roma und Sinti, europäischen, womöglich keltischen, Ursprungs sind. Zudem stießen im Laufe der Jahrhunderte Menschen zum Volk der Jenischen, die wegen Hunger, Armut, Krieg, Massenkrankheiten oder Realteilung zur Wanderschaft gezwungen waren. Im Mittelalter sah sich etwa ein Fünftel der Menschen genötigt umherzuziehen, im 17. und 18. Jahrhundert gar ein Viertel. Noch im 19. Jahrhundert waren es etwa zehn Prozent. Bei den Jenischen unter ihnen wurde aus der Not des Reisens eine Tugend sowie ureigenste Tradition und Lebensform. Ihr Brot verdienten sich die Jenischen als Handwerker, Kesselschmiede, Pfannenflicker, Korbflechter und Besenbinder, Bettler, Hausierer mit Waren aller Art, als Schausteller, Wahrsager, Kräuterfrauen, Kartenleger, Seiltänzer, Bärentreiber, Vogelhändler, Zirkusbetreiber, Drehorgelspieler und mit vielen anderen Tätigkeiten .
Heute gibt es in Europa Schätzungen zufolge zwischen zweihundertfünfzigtausend und eineinhalb Millionen Jenische. Eine Gruppe davon sind zum Beispiel die Tinkers in Irland, Schottland und England. Ihre Sprache (Shelta) ist die reinste Form des noch gesprochenen Keltischen. Jenische leben aber unter anderem auch in Frankreich, Spanien, Italien, der Schweiz, Norwegen, Schweden, Finnland, Deutschland, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und in Österreich .
Die Jenischen haben eine eigene Sprache, mit der sie sich über alle Landesgrenzen hinweg untereinander verständigen können. Bedeutung und Herkunft des Wortes »Jenisch« sind strittig. Die Wortwurzel könnte im Romanes liegen und die Sprache der Wissenden und Eingeweihten bezeichnen. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Jenisch eine Mischung aus Keltisch, Romanes, Jiddisch sowie regional gefärbten Wortkreationen. Jenisch hat keine eigene Grammatik, allerdings einen großen Wortschatz. Die Fahrenden verwendeten und verwenden Jenisch als Geheim- und Berufssprache .
Die Götter verließen deine Ahnen keinen einzigen Tag. Während ihrer ganzen langen Reise nicht. Ab dem Tag, an dem die Familie von Amaliendorf aufgebrochen war, stand sie unter ihrer Obhut. Und weißt du warum, mein kleiner, schlauer Fuchs? Weil ihnen die Älteste der Sippe einen Glückserdapfel mitgegeben hatte, so wie es noch heute Brauch ist hier heroben, bei uns im Waldviertel. Den Erdapfel hatte sie im Sommer ausgegraben. Und ab diesem Moment, ab dem Augenblick, an dem dieser Erdapfel dem sonnengetrockneten Acker entnommen worden war und die groben Hände der Alten ihn zum ersten Mal befühlt hatten, bekam er die Aufgabe, der Familie beizustehen. Alleine mit diesem Gedanken fütterte die Alte den Erdapfel. Immer wenn sie ihn ansah, ihn zwischen ihren Händen rieb und mit ihrem knöchrigen Daumen aufs Neue grüne Triebe abstreifte, konzentrierte sie sich darauf, dass dieser Erdapfel dazu bestimmt war, Glück zu bringen. Vielleicht hundertmal wurde der Erdapfel auf diese Art von der Alten mit Liebe und Energie aufgeladen. Je älter und somit kleiner, runzeliger und härter er wurde, desto mehr Kraft wohnte in ihm.
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