Graf Straßoldo plante ein politisches Meisterstück. Er wollte zwei Ärgernisse mit einer einzigen Maßnahme loswerden: Zum einen suchte die Monarchie nach einer Lösung für das »Zigeunerunwesen«. Wobei das Unwesen zumeist darin bestand, dass unsere reisenden Ahnen den eingesessenen Zünften allzu große Konkurrenz machten und sich die Bauern beschwerten, weil ihre dummen Henderln wie verhext hinter den Karren deiner Vorväter nachrannten und schließlich in deren Kochtöpfe stolperten. Die Obrigkeit und die fantasielosen, sesshaften Bürger nannten das dann Diebstahl. Neben diesem Zigeunerunwesen jedenfalls hatte der Graf das Problem, Land zu besitzen, das wegen seiner Wildheit und Unzugänglichkeit keinen Gewinn abwarf. Also kombinierte der Graf: Er hatte unbrauchbares Land und unbrauchbares Volk. Was lag da näher, als unbrauchbares Land durch unbrauchbares Volk brauchbar zu machen. Und umgekehrt.
Um seinen Willen durchzusetzen, wählte der Graf eine seiner billigsten Waffen: Als sich eine Gelegenheit bot, deinen Vorfahren straffälliges Verhalten vorzuwerfen, ließ er die Richter noch strenger vorgehen als sonst. So setzte es diesmal nicht wie gewohnt eine Geldstrafe oder die üblichen Wochen hinter Gittern. Diesmal war es Kerker. Einzelhaft. Ein ganzes Jahr lang Trennung von der Familie. So erreichte der Graf, was er erreichen wollte: Er hatte deinen Vorfahren die Angst tief bis in die letzten Winkel ihrer Seelen gejagt. Diese Angst durchdrang sie so unerbittlich, dass sie deine Ahnen schließlich eintauschten. Und zwar gegen einen Zustand, den der Graf, weil er es nicht besser wusste, Freiheit nannte. Innerhalb von drei Jahren mussten deine Vorfahren Wälder roden, steinige Wiesen urbar machen, Sümpfe trockenlegen und danach – und das war das Schlimmste für sie – danach mussten sie Häuser errichten und sesshaft werden. Für immer. Kein Herumtreiberleben mehr, vorbei mit den Reisen und dem sittenlosen Dasein, wie der Graf es nannte. Diesmal kamen deine Verwandten nicht mit Haft davon, diesmal war es Sesshaft.
Zwei, drei und vier Joch großer, karger Grund wurde ihnen geboten – einzutauschen gegen endlose Freiheit und den Besitz von allem, was Gott je für sie hat wachsen und gedeihen lassen auf Erden. Das Einzige, mein kleiner Fuchs, was deinen Vorfahren erhalten bleiben sollte, war der Hunger. Er sollte mit einziehen in das kleine Häuschen, das sie zu bauen hatten. Der Hunger, da waren sie sicher, würde bei ihnen bleiben, als steter Begleiter. Denn der steinige Boden, das war bald gewiss, würde zu wenig abgeben, würde geizig sein beim Verteilen seiner Früchte. Zudem waren hier heroben, im nördlichsten Zipfel des Waldviertels, die Sommer allzu kurz, die Winter hingegen hart und lang.
Das war auch der Grund, warum sich dein Urahn eines Abends nach der Arbeit davonmachte und nicht wie die anderen Männer zu seiner Familie zurückkehrte, in die notdürftig errichtete Holzbaracke, wo alle Frauen und Kinder warteten, gleichsam lebendes Pfand des Grafen für die Rückkehr der Männer. Dein Vorfahre glitt unbemerkt vom schmalen Pfad ab, den er und die anderen Männer in den letzten Monaten geschlagen hatten, tauchte ein in den nach Sommer duftenden Jungwald und wollte nach einem Flecken Erde Ausschau halten, der satter war und üppiger als die vom Grafen zugeteilten Parzellen.
Nach Stunden des Herumirrens im Wald beschloss er umzukehren. Er konnte sich nur noch am Schein des Mondes orientieren, zudem schmerzte sein Magen – teils weil er beinahe leer war, teils wegen der Beeren und Schwammerln, die er im Heißhunger blindlings verschlungen hatte, und die nun in seiner Magengrube ihre Gaukeleien trieben. Die wilden Früchte des Waldes waren es wohl auch, die den Geist deines Urahns verrückt hatten. Was irrst du hier herum?, fragte er sich und gab sich im Stillen die verzweifelte Antwort: Ich will doch nur einen Flecken finden, der windgeschützt ist und dessen Erde sich bereitwillig auftut, um zu nehmen, und die sich auch wieder bereitwillig auftut, um zu geben. Kaum hatte er diese Hoffnung zu Ende gedacht, eröffnete sich vor ihm eine Lichtung. Der Wald zeichnete ihre traumhaften Umrisse und der Mond warf sanftes Licht auf üppiges Geflecht, auf Kräuter und auf eine Wiese mit sattem, frischen Gras. Dein Urahn jauchzte vor Freude und rannte los. Er schrie »Danke! Danke!« und warf die Hände zum Himmel. Nach wenigen Metern versank er im Moor.
Als er aufgehört hatte zu schreien und das Moor begann, ihm die Luft zu rauben, vernahm er eine tiefe, ruhige Stimme: »Du hast mich gesucht und nun hast du mich gefunden«, sagte der Moorgeist zu ihm. »Du wolltest Erde, die nimmt, und Erde, die gibt. Nun nehme ich. Und ich verspreche dir, auch wieder zu geben. Ich werde deine Kinder und deine Frau wärmen und ihnen Nahrung sein.« Nach diesen Worten nahm der Moorgeist deinem Vorfahren die Angst und zog ihn zu sich.
Schon am Tag darauf stellte sich heraus, dass der Moorgeist Wort gehalten hatte. Denn unweit der Stelle, an der dein Vorfahre vom Moor verschluckt worden war, ließ der Graf fortan Torf stechen. Torf, mit dem die Öfen der Siedlung befeuert wurden und dessen Ertrag dank des gräflichen Zubrots ausreichte, Frau und Kinder deines Urahns zu ernähren.
Ich weiß, du kennst diese Geschichte schon, mein kleiner, schlauer Fuchs. Unzählige Male habe ich sie dir erzählt, so wie die vielen anderen Geschichten auch. Aber du weißt, warum ich all das nun noch einmal wiederhole, nicht wahr? Du weißt, warum ich die alten und uralten Geschichten unserer Vorväter noch einmal hervorkrame aus meinem Schädel. Freilich weißt du es, mein kleiner, schlauer Fuchs: Es wird nicht mehr lange sein, dann werde ich diese Welt verlassen, um in eine andere zu gehen. Ich spüre schon, wie ich der Erde zuwachse. Tag für Tag ein Stückchen näher. Bald werde ich sie nähren, wie sie mich ein Leben lang genährt hat. Das ist der Lauf der Dinge.
Du bist der Letzte und Jüngste unserer Sippe. Nur dir erzähle ich all die Geschichten und Weisheiten. Nur dir vertraue ich all mein Wissen an, wie es Sitte ist bei uns, seit jeher: vom Ältesten zum Jüngsten. Es ist ein jahrhundertealtes Wissen, ein Wissen, das von unseren Ahnen und Urahnen gesammelt wurde, und das es zu hüten gilt wie einen sehr wertvollen Schatz. Und ich sehe an deinen Augen, dass dieser Schatz gut bei dir aufgehoben ist, mein kleiner, schlauer Fuchs.
Lillis Wehen wurden immer stärker, doch das ließ sie die beiden Gendarmen nicht merken. Sie hatte die Beine unter ihrem langen, schweren Rock versteckt, hockte auf dem staubigen Boden, den Rücken ans Wagenrad gelehnt, und sah in zwei pausbäckige Gesichter, die von Fusel und Schweinefett aufgedunsen waren. Als der kleinere der beiden zu reden begann, schoben sich die Falten seines Doppelkinns übereinander wie die Lappen einer alten, speckigen Ziehharmonika. »Verschwindet sofort vom Gemeindegebiet, wenn ihr keine Wandererlaubnis und kein Hausierbuch habt«, keifte er, nahm den Holzknüppel von seinem Gürtel und ließ ihn ein paarmal lässig in die flache Hand klatschen. Lilli hatte keine Angst. Sie war zornig, und das war der Grund, warum sie erwog, die beiden zu verhexen. Sie hätte ihnen Kröpfe wachsen lassen können oder eitrige Furunkel. Beides womöglich. Freilich wusste sie, dass das Kraftverschwendung gewesen wäre, denn der Zauber würde keinesfalls rasch genug wirken, um die Gendarmen zu vertreiben. Weit schwerer aber noch wog, dass sie die Flüche viel, sehr viel Kraft kosten würden. Kraft, die ihr und ihrem Ungeborenen, das immer heftiger nach draußen ins Leben drängte, bei der nahen Geburt fehlen würde. Und dennoch war die Versuchung für Lilli groß, die beiden Fettwänste für ihre Gemeinheit noch mehr zu strafen als es Gott, für jedermann offensichtlich, ohnehin bereits getan hatte.
»Ist schon in Ordnung«, sagte da Lillis Mann, der ihren Holzkarren zur Nachtrast am Tag davor in alter Übung und mit Vorbedacht an einem Grenzstein angehalten hatte. »Komm Lilli«, sagte er in ruhigem, fröhlichem Ton, »steh auf, wir rücken ein bisschen herüber auf Zwettler Boden, zur anderen Gemeinde.«
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