An Zauber grenzte es auch, dass Luca Resulatti es schaffte, all die Dinge, die er versprach, auch tatsächlich einzuhalten. Denn es konnte freilich keine Rede davon sein, dass er sämtliche Fertigkeiten, die er anpries, auch beherrschte. Noch nie in seinem Leben hatte er einen Regenschirm geflickt, noch nie einen Topf oder eine Pfanne repariert. Was er wirklich konnte, war Körbe flechten – und improvisieren. Beides hatte er von seinem Großvater gelernt. Also werkte er einfach drauf los, wenn es galt, Dinge zu tun, die er bisher nur andere tun gesehen hatte. Und irgendwie funktionierte es immer. Wenn auch manchmal eben nur irgendwie.
Bei jedem Hof, in jedem Dorf und in jeder Stadt auf seiner Reise fragte Luca, ob »der berühmte Zirkus Resulatti« einmal in der Nähe Station gemacht habe. Doch niemand hatte jemals etwas von diesem berühmten Zirkus gehört, geschweige denn, eine der Vorstellungen besucht. Mit den Monaten wuchs in Luca Resulatti eine Sorge, die ihren Ausdruck darin fand, dass er nicht mehr nach dem »berühmten Zirkus Resulatti« fragte, sondern nur noch nach dem »Zirkus Resulatti«. Abermals Monate später, es war mittlerweile Spätsommer geworden, hatte Luca die Erfolglosigkeit satt. Also fragte er, ob denn nicht »irgendein Zirkus« in der Gegend gewesen sei. Das ließ die Trefferquote geradezu explodieren. Und Luca schöpfte wieder Hoffnung.
Nie und nimmer hätte er gedacht, dass es so viele Zirkusse gibt. Manche davon, so befand er, hätten sich, ginge es nach ihm, keinesfalls Zirkus nennen dürfen. Seiner Ansicht nach waren es armselige Häufchen von Menschen, die sich Artisten schimpften, nur weil sie es beispielsweise mehr schlecht als recht schafften, auf einem Seil zu balancieren, das zwei Meter über der Erde gespannt war, und dabei ein paar Bälle jonglierten. Nein, Zirkus müsste mehr sein, fand Luca Resulatti: größer, lauter, bunter, exotischer, gewagter. Kurzum: Ein richtiger Zirkus müsste so sein wie der seines Onkels. Und er würde nicht aufgeben, bis er diesen Zirkus gefunden hatte.
In der Zwischenzeit begnügte sich Luca Resulatti damit, sein eigener Zirkus zu sein. Er gewöhnte sich an, seine Besen und Körbe nicht bloß anzubieten und sie mit Anekdoten zu versehen. Zusätzlich verlegte er sich darauf, die Besen geschickt durch die Luft zu wirbeln, um sie schließlich elegant wieder aufzufangen. Er jonglierte mit Körben aller Art und Größe und ließ sie, sozusagen als Schluss- und Höhepunkt seiner Darbietung, ineinander auf seinem Kopf landen, sodass er letztlich einen meterhohen, wackeligen Turm aus Körben auf seinem Kopf balancierte. Und weil ihm dieses Kunststück noch zu wenig spektakulär schien, hatte er bei all der Herumspringerei die alte Mundharmonika seines Großvaters zwischen die Lippen gepresst. Dementsprechend hektisch klangen die Melodien. Den Leuten gefiel es.
Der Zirkus war es auch, der ihn auf einen neuen Verkaufsschlager brachte: Elefantenschmalz. Luca Resulatti pries das Schmalz als immens kräftigend an. Schließlich stamme es vom mächtigsten und größten Tier der Erde. Dass in den Tiegeln nur gewöhnliches Schweineschmalz war, das Luca zur Tarnung mit zerriebenen Waldkräutern verrührt hatte, vertrug sich mit den vom Großvater übernommenen hohen Moralvorstellungen durchaus. Schließlich könne man nicht auf die Dummheit jedes Bauerntölpels Rücksicht nehmen, sagte sich Luca. Genauso verhielt es sich bei zwei noch raffinierteren Produkt-Einführungen: den Tränen der Jungfrau Maria und den Milchtropfen aus der Brust der Mutter Gottes.
»Circo Carloso«, stand in großen Lettern an den Wagen, die von Pferdegespannen durch den warmen Sand der Landstraße gezogen wurden. Allein die Staubwolke, mit der die mehr als ein Dutzend Wagen ihn einnebelten, beeindruckte Luca Resulatti. So müsste er sein, dachte er, der Zirkus seines Onkels. Vor dem ersten Gespann wurden tatsächlich zwei Elefanten hergetrieben, hinter dem Tross rannten einige Zebras, Kamele und sogar eine Giraffe. In einem Käfigwagen sah man auf den Eisenstäben herumlungernde Schimpansen, in einem anderen wurden Löwen, wieder in einem anderen Tiger transportiert. Ja, das war ein richtiger Zirkus.
»Wo macht ihr Halt?«, rief Luca im Laufen den zwei Burschen zu, die am Kutschbock des letzten Wagens saßen.
»Malcesine«, kam von einem als Antwort.
»Und wie heißt der Zirkusdirektor?«
»Steht doch auf den Wagen. Kannst du nicht lesen? Carloso!«
Luca Resulatti war nicht enttäuscht. Er hatte nicht einmal zu hoffen gewagt, dass es der Zirkus seines Onkels sei. Und lesen? Ja, er konnte lesen. Anders als sein Großvater. Der hatte zwar keine Bücher lesen können, dafür aber in Gesichtern. »Ich sage dir, Luca, das Herz eines Menschen zeichnet sich auf seinem Gesicht ab«, hatte er hin und wieder gesagt, bevor sie gemeinsam mit ihren Körben hausieren gingen. Zum Beweis hatten sie geheime Handzeichen vereinbart, die der Großvater für seinen Enkel machte, sobald sich die Tür öffnete. Die offene Hand an der Hosennaht bedeutete: Das ist ein offener Mensch, wir haben gute Geschäfte vor uns oder zumindest ein freundliches Gespräch. Die geschlossene Hand bedeutete: Das ist ein verschlossener Mensch, der mit sich hadert, es wird schwierig, Geschäfte zu machen, und wahrscheinlich auch trostlos. Luca konnte sich an kein einziges Mal erinnern, bei dem sein Großvater geirrt hatte.
Ein paar Stunden später war die Zirkuskolonne in Malcesine an ihrem Standplatz angekommen. Mit nur etwas Verspätung folgte, vom schnellen Gehen keuchend und schweißnass, Luca Resulatti. Zum Rasten ließ er sich keine Zeit. Er inspizierte einen Wagen nach dem anderen und schließlich sah er ihn: Das musste er sein, der Zirkusdirektor, das musste Signore Carloso sein. Der Mann war nicht gerade hochgeschossen, vielleicht knapp eins siebzig groß. Er war spindeldürr, so um die vierzig Jahre alt, hatte krauses, schwarzes Haar und trug einen gezwirbelten Bart über seiner Oberlippe. Auf seinem Kopf saß ein schwarzer Hut, er trug ein weißes Hemd, darüber ein schwarzes Gilet. Schwarze, blank polierte Schuhe mit leichten Absätzen glänzten unter seiner schwarzen Stoffhose. In seinen Mundwinkeln steckte eine Virginia, an der er mehr zu kauen schien, als dass er sie rauchte. Luca Resulatti war zu nervös für lange Einleitungen: »Signore Carloso! Darf ich für Sie arbeiten?« Lucas Gegenüber lehnte sich an seinen hölzernen, rot-blau-gelb bemalten Wohnwagen, verschränke die Arme und schien zu lächeln. Aber genau konnte Luca das nicht beurteilen, vielleicht kaute der Mann auch nur auf eine sehr eigene Art und Weise an seiner Virginia. »Was kannst du?«, fragte der Zirkusdirektor. Luca wollte nicht riskieren, abgewiesen zu werden. Deshalb antwortete er so, wie es ihm bereits auf seiner Reise Erfolg eingebracht hatte: »Alles. Ich kann alles, Signore Carloso.«
»Alles«, wiederholte der Zirkusdirektor nachdenklich und mit betont beeindruckter Miene. »Nun, wenn das so ist und du wirklich alles kannst, dann beginne damit, die Damenlatrinen zu putzen.«
Das war nicht die Tätigkeit, die sich Luca für seinen Einstieg ins abenteuerliche Zirkusleben vorgestellt hatte. Da er aber sicher war, dass Großvater beim Anblick dieses Mannes seine offene Hand an die Hosennaht gehalten hätte, gab Luca Resulatti nicht auf: »Signore Carloso. Wenn Sie das so wollen, werde ich es machen. Aber ich bitte Sie, mir eine verantwortungsvollere Tätigkeit zu geben.« Das scheinen die richtigen Worte gewesen zu sein, freute sich Luca, denn nun lächelte der Zirkusdirektor. Mit Sicherheit lächelte er. Zigarrenkauen alleine konnte das nicht sein.
»Wie heißt du, mein Junge?«, wollte der Zirkusdirektor wissen. Als Luca Resulatti mit stolzgeschwellter Brust seinen Vor- und seinen Nachnamen aussprach, kippte die Virginia seines Gegenübers nach vorne und kurz, ganz kurz, wurde aus dem stolzen, eleganten Zirkusdirektor Carloso ein weicher, schmächtiger Mann.
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