223
Generell ist zu beachten, dass der EuGH nicht die Kompetenz hat, die Frage der Normenkollision mit Nichtigkeitsfolge für das nationale Recht verbindlich zu entscheiden[158].
224
Lösung Fall 4 ( Rn 198):
Da das Unionsrecht Anwendungsvorrang vor nationalem Recht hat, dürfen entgegenstehende Normen des italienischen Gesetzes von italienischen Behörden und Gerichten nicht angewendet werden. Das Problem verfassungsrechtlicher Schranken stellt sich im konkreten Fall nicht.
c) Geltungs- oder Anwendungsvorrang
225
Während nach der Lehre vom Geltungsvorrang das Unionsrecht entgegenstehendes nationales Recht nichtig macht, verdrängt es dieses nach der Lehre vom Anwendungsvorrang nur hinsichtlich der Anwendung in einem Kollisionsfall. Dem überwiegend vertretenen Anwendungsvorrang ist zu folgen, da dieser dem Bedürfnis nach einheitlicher Geltung und Anwendung des Unionsrechts hinreichend Rechnung trägt, ohne die nationalen Rechtsordnungen unnötig zu beeinträchtigen. Das Fortbestehen bestimmter Regelungen in allen Fällen ohne Unionsbezug kann nämlich durchaus sinnvoll sein.
Beispiel:
Anwendung des nationalen Lebensmittelrechts auf Waren, die direkt aus Drittstaaten importiert werden, oder für die inländische Produktion (bei Fehlen einer sekundärrechtlichen Regelung).
226
In bestimmten Fällen ist allerdings eine Klarstellung (für Verwaltung und Bürger) durch eine Sonderregelung für unionsrechtlich beeinflusste Bereiche geboten.
Beispiel:
EU-Ausländerrecht, vgl Freizügigkeitsgesetz/EU[159] (s. Rn 950). In diesem Fall war dies allerdings bereits zur Umsetzung von EG-Richtlinien geboten. Jedenfalls bei Problemen in der Realisierung des Anwendungsvorrangs des Primärrechts (vgl Rn 267) ist eine differenzierende Klarstellung wie zB in § 54 LFGB[160] geboten[161].
§ 3 Grundlagen der Europäischen Union› VII. Das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht › 3. Die Lösung des Rangverhältnisses im deutschen Recht – Rechtsprechung des BVerfG
3. Die Lösung des Rangverhältnisses im deutschen Recht – Rechtsprechung des BVerfG
227
Literatur:
S. dazu eingehend Schweitzer/Dederer , Rn 71 ff. S. auch C. Degenhart , Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht, 34. Aufl. 2018, Rn 261 ff; T. Kingreen/R. Poscher , Grundrechte. Staatsrecht II, 34. Aufl. 2018, Rn 213 ff.
Die Rechtsprechung des BVerfG zum Verhältnis des Gemeinschaftsrechts bzw Unionsrechts zum nationalen Recht war nicht frei von Schwankungen. Seit dem Solange II-Beschluss[162] und dem Kloppenburg-Beschluss[163] kann sie aber im Grundsatz als gefestigt angesehen werden. Unsicherheiten hinsichtlich der Konkretisierung des Prüfungsmaßstabs und der Aktivierung des Prüfungsvorbehalts, der im Solange II-Beschluss gemacht wurde, die im Maastricht-Urteil[164] nicht beseitigt, sondern eher verstärkt wurden, sind im OMT-Urteil beseitigt worden. Das BVerfG betont, dass Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU keine Akte deutscher öffentlicher Gewalt und daher auch nicht unmittelbar Beschwerdegegenstand von Verfassungsbeschwerden sein können[165]. Das Lissabon-Urteil[166] bestätigt einerseits den Kontrollvorbehalt und arbeitet neben der Grundrechtskontrolle und der Ultra-vires-Kontrolle die „Identitätskontrolle“ heraus, betont aber andererseits, dass der Kontrollvorbehalt „europarechtsfreundlich“ ausgeübt werden müsse. Der Bananenmarkt-Beschluss[167] bestätigt den Grundsatz, macht die Aktivierung des Prüfungsvorbehalts der Grundrechtskontrolle aber von so hohen Hürden abhängig, dass er praktisch wohl bedeutungslos sein dürfte (s. Rn 256). Der Honeywell-Beschluss beschränkt die Ultra-vires-Kontrolle auf evidente und strukturell bedeutsame Verschiebungen zulasten der Mitgliedstaaten herbeiführende („systemrelevante“) Kompetenzüberschreitungen[168]. Diese nahm das BVerfG aber seitens der EZB in seinen Vorlagen an den EuGH in den Fällen OMT[169] und Anleihenaufkaufprogramm[170] an.
a) Vorrang des Unionsrechts kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung
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Das BVerfG geht von einem Vorrang des Unionsrechts kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung aus. Darüber dürfen die Entscheidungen nicht hinwegtäuschen, in denen das BVerfG aus der Costa/ENEL-Rechtsprechung des EuGH (vgl Rn 218 ff) expressis verbis den Schluss gezogen und diesem beigepflichtet hat, dass das Unionsrecht weder Bestandteil der nationalen Rechtsordnung noch Völkerrecht sei[171]. Denn das BVerfG nimmt die Normenkontrolle über die Zustimmungsgesetze zu den EU-Gründungsverträgen und damit mittelbar über das Primärrecht nach wie vor in Anspruch[172]. Unter „Autonomie“ und „Eigenständigkeit“ des Unionsrechts versteht das BVerfG daher (im Gegensatz zur „Gesamtakttheorie“, vgl Rn 129) jedenfalls keine Ablösung des Primärrechts und auch des Sekundärrechts von der völkerrechtlichen Grundlage. Im Solange II-Beschluss bekräftigt das BVerfG eindeutig die völkerrechtliche Grundlage des Unionsrechts und die fortbestehende Bedeutung der Zustimmungsgesetze für seine Geltung und Anwendung im innerstaatlichen Bereich. Es zieht zB die Auslegungsgrundsätze der WVRK heran, um die völkerrechtliche Erheblichkeit der Erklärungen der Unionsorgane zum Grundrechtsschutz (vgl Rn 463) zu belegen[173]. Es betont, dass sich die innerstaatliche Geltung und Anwendbarkeit sowie ein möglicher innerstaatlicher Geltungs- oder Anwendungsvorrang wie allgemein für völkerrechtliche Verträge auch für die EU-Gründungsverträge nicht schon aus dem allgemeinen Völkerrecht, sondern allein aus einem dahingehenden innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl ergibt (ungeachtet dessen, dass die EU-Gründungsverträge ihrem Inhalt zufolge die Parteien dazu verpflichten, den innerstaatlichen Anwendungsvorrang herbeizuführen). Damit macht es deutlich, dass die unmittelbare Geltung des Sekundärrechts in Deutschland und sein Anwendungsvorrang gegenüber innerstaatlichem Recht sich aus dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes zu den Verträgen, der sich auf Art. 288 Abs. 2 AEUV erstreckt, ergibt[174]. Es präzisiert damit im Sinne der Vollzugstheoriedes Völkerrechts seine für den Anwendungsvorrang und seine verfassungsrechtliche Ermächtigung wichtige Aussage aus seiner früheren st Rspr, dass das von Art. 24 Abs. 1 GG (jetzt Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG) geforderte Integrationsgesetz diese Verfassungsbestimmung aktualisiere, welche
„die deutsche Rechtsordnung derart öffnet, dass der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des Grundgesetzes zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb des staatlichen Herrschaftsbereichs Raum gelassen wird“ [175].
229
Die konkreten Folgen, die dadurch im Gegensatz zu einer bloßen Transformation entstehen, hat das BVerfG in seiner Interpretation des Art. 24 Abs. 1 GG (dies gilt ebenso für Art. 23 Abs. 1 S. 1 und 2 GG) dahingehend verdeutlicht, dass dieser bei sachgerechter Auslegung nicht nur besage,
„dass die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen überhaupt zulässig ist, sondern auch, dass die Hoheitsakte ihrer Organe vom ursprünglich ausschließlichen Hoheitsträger anzuerkennen sind“ [176].
Damit ist der Vorrang des Unionsrechts auch verfassungsrechtlich im Grundsatz gesichert.
230
Diese Rechtsprechung und den damit verbundenen Prüfungsvorbehalt hat das BVerfG im Kloppenburg-Beschluss bestätigt, wo es eine eingehende Prüfung dahingehend vornimmt, ob die Rechtsfortentwicklung durch den EuGH (hier die Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien über den Wortlaut des Art. 288 Abs. 3 AEUV hinaus, vgl Rn 493 ff) noch von der Integrationsermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG (jetzt Art. 23 Abs. 1 GG) getragen ist[177].
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