Hat dieser Antrag Aussicht auf Erfolg? (Lösung: Rn 269 )
§ 3 Grundlagen der Europäischen Union› VII. Das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht › 1. Zuordnungsfragen
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Die Zuordnung von Unionsrecht und nationalem Recht wurde seit Gründung der Gemeinschaften so intensiv wie keine andere Frage diskutiert. Mangels einer ausdrücklichen Kollisionsregel im Unionsrecht[132] und in den meisten Verfassungen der Mitgliedstaaten (vgl aber zB Art. 94 der niederländischen Verfassung und Art. 29 Abs. 4 UAbs. 3 S. 2 der irischen Verfassung) und angesichts der grundlegenden Bedeutung der Frage ist dies verständlich. Während am Anfang die Rangfrage im Vordergrund stand, setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass Unionsrechtsordnung und nationale Rechtsordnung sich gegenseitig durchdringen und voneinander abhängig sind. Für diese Erscheinung wird verbreitet der Begriff der „Verzahnung“ von Unionsrecht und nationalem Recht verwendet.
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Die Rangfrage ist aus unionsrechtlicher Sicht deshalb von so großer Bedeutung, weil eine einheitliche Geltung und Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten, die für das Funktionieren der Union unerlässlich ist, nur bei einem Vorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht gesichert ist. Diese Rangfrage hängt mit zwei weiteren Grundproblemen des Unionsrechts zusammen: seinem Geltungsgrund und seiner Autonomie.
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Die Verhältnisfrage kann aber nicht nur aus dieser unionsrechtlichen, sie muss auch aus der verfassungsrechtlichen Perspektive gesehen werden, nämlich auf welchem Wege und mit welchen Folgen das nationale (deutsche) Verfassungsrecht die Geltung und Anwendung des Unionsrechts im nationalen (deutschen) Rechtsraum ermöglicht und welche Auswirkungen dies für den (Grund-)Rechtsschutz durch Gerichte (insbesondere das BVerfG) hat.
b) Die „Verzahnung“ von Unionsrecht und nationalem Recht
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Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Unionsrecht und nationalem Recht beschränkt sich aber keineswegs auf diese Rangfrage und die Suche nach Kollisionslösungen. Unionsrecht und nationales Recht stehen sich zwar als jeweils eigenständige und getrennte Rechtsordnungen gegenüber, jedoch nicht isoliert voneinander. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass einerseits das Unionsrecht des nationalen Vollzugs bedarf (Durchführung von Verordnungen und nationalen Gesetzen, die Richtlinien umsetzen, s. Rn 480 ff; legislative Umsetzung von Richtlinien, s. Rn 487 ff), andererseits auch das Unionsrecht der zulässigen Anwendung nationalen Rechts Grenzen setzt (Kompetenzbeeinträchtigung durch Sachnormen, vgl Rn 189).
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Dieser wechselseitigen Beeinflussung und Abhängigkeit wird allein eine Sichtweise gerecht, die die „Verzahnung“ des Unionsrechts mit dem nationalen Recht in ihrer Gesamtheit erfasst. Dazu gehören aber neben der Rang- und Kollisionsfrage auch die speziellen Fragen des Zusammenwirkens beider Rechtsordnungen und der durch sie geschaffenen Organe. Hervorzuheben ist hier das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV mit dem Vorlagerecht und der Vorlagepflicht nationaler Gerichte und deren Pflicht zur Wahrung des Unionsrechts im nationalen Vollzug (vgl Rn 700, 727).
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Neben dieser Verzahnung der Rechtsordnungen und der Organe ist auch die Verzahnung durch die gegenseitige Beeinflussung beider Rechtsordnungen zu beachten[133]. Deutlich lässt sich dies am Verwaltungsrecht aufzeigen. Die nationalen Verwaltungsrechte beeinflussen das Europäische Verwaltungsrecht zwangsläufig dadurch, dass sie Erkenntnisgrundlage der im Wege der Rechtsvergleichung gewonnenen allgemeinen Rechtsgrundsätze des Europäischen Verwaltungsrechts sind (s. Rn 814). Umgekehrt hat auch das Europäische Recht Einfluss auf das nationale Verwaltungsrecht[134] und Verwaltungsprozessrecht.
Beispiel:
Anforderungen für den gerichtlichen Rechtsschutz in Unionsrechtsfällen, die zB über das bisherige System des britischen Rechtsschutzes hinausgehen (Anfechtung von Verwaltungsakten[135]; vorläufiger Rechtsschutz[136]); Einräumung von Klagerechten an den Einzelnen durch das Unionsrecht, die über die in Deutschland herrschende Schutznormtheorie hinausgehen[137].
§ 3 Grundlagen der Europäischen Union› VII. Das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht › 2. Die Lösung des Rangverhältnisses
2. Die Lösung des Rangverhältnisses[138]
a) Prinzipieller Vorrang des Unionsrechts
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Ungeachtet unterschiedlicher dogmatischer Begründungen besteht in der Wissenschaft sowie in der europäischen und nationalen Rechtsprechung aller Mitgliedstaaten über die grundsätzliche Lösung des Verhältnisses von Unionsrecht und nationalem Recht Einigkeit. Dem Unionsrecht kommt vor nationalem Recht Vorrang zu. Die dafür gegebenen Begründungen unterscheiden sich allerdings nicht nur in den einzelnen Argumenten, sondern auch im Grundsätzlichen, und auch die Art des Vorrangs (Geltungs- oder Anwendungsvorrang) wird unterschiedlich gesehen. Aus der verfassungsrechtlichen Sicht aller Mitgliedstaaten ist der Vorrang kein absoluter, sondern stößt an verfassungsrechtliche Schranken.
b) Begründung des Vorrangs des Unionsrechts
aa) In der Literatur vertretene Auffassungen
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Unhaltbarund daher aufgegeben wurden folgende Auffassungen: Lösung anhand der allgemeinen Regeln des Verhältnisses von Völkerrecht und Landesrechtohne Berücksichtigung der besonderen Erfordernisse des Unionsrechts. Dies würde zu einem unterschiedlichen Rang des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten führen, was mit der notwendigen einheitlichen Geltung und Anwendung des Unionsrechts unvereinbar ist. BundesstaatlicheLösungen, die entweder die Geltung eines Satzes „Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht“ ( Grabitz , 1966) oder eine Kompetenzabgrenzung dahingehend behaupten, dass kompetenzwidrig erlassenes nationales Recht nichtig sei ( Ophüls [139]). Gegen diese Theorien spricht bereits, dass die Europäische Union kein Bundesstaat ist[140], ferner, dass für einen solchen die Regel „Bundesrecht bricht Landesrecht“ (Art. 31 GG) keineswegs zwingend ist. Die Kompetenzabschichtungstheorie geht von einer unzutreffenden „dinglichen“ Deutung des Übertragungsaktes aus. Eine verfahrensrechtlicheLösung dahingehend, dass der EuGH in Kollisionsfällen auch über die Gültigkeit oder Ungültigkeit nationalen Rechts judizieren kann, scheidet deshalb aus, weil dem EuGH – auch nach seiner eigenen Judikatur[141] – diese Kompetenz nicht zukommt. PragmatischeLösungen wie eine unionskonforme Auslegung nationalen Rechts nach einer Regel „in dubio pro communitate“ oder des Erlasses jeweils neuen Unionsrechts, wenn entgegenstehendes nationales Recht dem bisher erlassenen Unionsrecht widerspricht („lex posterior communitatis“) können eine normative Lösung schon deshalb nicht ersetzen, weil sie die zuständigen Organe nicht binden.
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Vertretenwird ein Vorrang des Unionsrechts kraft Eigenständigkeit (rein europarechtliche Lösung) und ein Vorrang kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigungen (europarechtliche Lösung, die auf fortbestehenden verfassungsrechtlichen Ermächtigungen beruht).
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Die rein europarechtlichen Lösungengehen von einem eigenständigen Rechtscharakter des Unionsrechts aus, da es sich von seiner völkerrechtlichen Grundlage gelöst habe, lehnen daher die Lösungsversuche über das Verhältnis Völkerrecht/Landesrecht ab und suchen Kollisionsnormen ausschließlich im Unionsrecht. Dabei wird vordringlich auf das teleologisch ermittelte Prinzip der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Union abgestellt, dem die maßgebliche Kollisionsregel zu Gunsten eines Vorranges des Unionsrechts entnommen werden könne. Zudem enthielten Art. 4 Abs. 3 EUV (ex-Art. 10 EGV) für das primäre, Art. 288 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 249 Abs. 2 EGV) bzw Art. 161 Abs. 2 EAGV für das sekundäre Unionsrecht nicht nur Sach-, sondern auch Kollisionsnormen und seien als solche exemplarische Belege dieses Prinzips. Die allgemeine Verbindlichkeit der so gefundenen Kollisionsnormen beruhe auf der Tatsache der Zugehörigkeit (Gliedstellung) der Mitgliedstaaten zur Union. Damit habe das Unionsrecht Vorrang vor allem nationalen Recht der Mitgliedstaaten. Diese Lehre ist sowohl für den Anwendungs- wie für den Geltungsvorrang (s. Rn 225) offen.
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