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a) Die betriebsbezogene Unterscheidung bei Müller-Gugenberger/Bieneck nach Pflichtverstößen bei der Gründung, beim Betrieb sowie bei der Beendigung eines Unternehmens
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Müller-Gugenberger/Bieneck teilen das Wirtschaftsstrafrecht nach Pflichtverstößen bei der Gründung, beim Betrieb sowie bei der Beendigung und bei der Sanierung des Unternehmens ein[45]. Bei Beginn des Unternehmens werden vor allem Verstöße gegen Anmelde- und Erlaubnispflichten, Straftaten im Zusammenhang mit der Kapitalbeschaffung und Steuerdelikte hervorgehoben[46]. Während des Betriebs des Unternehmens werden Vermögens- und Steuerstraftaten in den Vordergrund gerückt[47]. Daneben werden Untreuesachverhalte, Verstöße gegen Delikte zum Schutz von Arbeitnehmerinteressen, Verstöße im Rahmen des Finanz- und Rechnungswesens sowie Delikte im Zusammenhang mit der Erzeugung und dem Absatz der Produkte betont[48].
b) Die Einteilung des Wirtschaftsstrafrechts in vier Hauptrisikobereiche bei Eidam
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Eidam konzentriert seine Ausführungen auf Straftaten beim Betrieb des Unternehmens und arbeitet „vier strafrechtliche Hauptrisikobereiche“ heraus: Das Umweltrisiko, das Betriebsstättenrisiko, das Produktrisiko und das Verkehrs- und Verkehrswirtschaftsrisiko[49]. Das Umweltrisiko steht als Oberbegriff für das Umweltstrafrecht. Das Betriebsstättenrisiko erfasst mit den Korruptions- und Kartelldelikten, der Untreue oder Computerkriminalität höchst unterschiedliche Tatbestände. Das Produktrisiko dient als Kategorie zur Einordnung der Körperverletzungstatbestände sowie der Straftaten und Ordnungswidrigkeiten des Lebensmittel-, Arzneimittel- und Gentechnikrechts. Unter der Überschrift des Verkehrs- und Verkehrswirtschaftsrisikos werden – unter anderem – die Sanktionsnormen des Straßen-, Schiffs-, Bahn- und Luftverkehrs sowie der Personen- und Güterbeförderung zusammengefasst. Damit nicht genug führt Eidam abschließend Beispiele für übergreifende Risikobereiche auf und entwickelt am Ende das Verkehrs-, Umwelt-, Betriebsstätten- und Produktrisiko für Fälle, deren strafrechtlich relevante Rechtsgutsverletzung sich als Realisierung verschiedenster Risiken darstellt[50].
c) Die topische, an einzelnen Kriminalitätsbereichen orientierte Einteilung bei Achenbach/Ransiek
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Achenbach/Ransiek gliedern das Wirtschaftsstrafrecht in ihrem an die Rechtspraxis gerichteten Handbuch zum Wirtschaftsstrafrecht topisch nach verschiedenen Kriminalitätsbereichen[51]: Nach einem ersten Kapitel über Sanktionen gegen Unternehmen und die Ahndung unternehmensbezogenen Handelns werden die strafrechtliche Produkthaftung, Delikte gegen den Wettbewerb und die staatliche Wirtschaftslenkung diskutiert. Daran schließen sich Kapitel über allgemeine Vermögensdelikte, über Daten- und Datennetzdelikte sowie Insolvenzdelikte an. Sodann werden gesellschaftsrechtliche Bilanz-, Prüfer- und Falschangabendelikte, der Kreditbetrug und Delikte gegen den unbaren Zahlungsverkehr, Kapitalmarktdelikte, Sanktionen gegen die Verletzung des Urheberrechts und gewerblicher Schutzrechte, Delikte auf dem Gebiet des Arbeitslebens sowie die Geldwäsche erörtert. Das Handbuch endet mit einem Kapitel über Vermögensabschöpfung und Zurückgewinnungshilfe. Theoretisch erklärt Achenbach dieses Vorgehen damit, dass sich für ihn der Begriff des Wirtschaftsstrafrechts als „Cluster“ aus einer Reihe von Einzelelementen zusammensetzt, die nicht scharf voneinander geschieden sind und durchaus gehäuft auftreten können, die in ihrem Gesamtbestand aber einen konkret-allgemeinen Begriff von Wirtschaftsstrafrecht konstituieren[52]. Diese Einzelelemente seien das Element der Wirtschaftslenkung und -ordnung, die überindividuelle Dimension, eine wirtschaftsbezogene Phänomenologie, der Umwelt- und Verbraucherschutz sowie das Arbeitsstrafrecht[53].
Teil 1 Grundlagen zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts› B › II. Folgen der vorgestellten Definitionsversuche und eine erste Kritik
II. Folgen der vorgestellten Definitionsversuche und eine erste Kritik
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Aus den gerade beschriebenen Versuchen, das Wirtschaftsstrafrecht zu systematisieren, wurde deutlich, dass nahezu jeder Tatbestand des klassischen Kernstrafrechts auch im Kontext wirtschaftlichen Handelns begangen werden kann. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn aus gesetzlichen oder wissenschaftlichen Definitionen des Wirtschaftsstrafrechts kein vom herkömmlichen Strafrecht klar abgrenzbarer Inhalt extrahiert werden kann[54]. Beschrieben wird stets nur ein Torso des Wirtschaftsstrafrechts oder ein Wirtschaftsstrafrecht im engeren Sinne, das gegen ein Wirtschaftsstrafrecht im weiteren Sinne abgegrenzt werden muss[55].
Dies zeigen die Ausführungen von Lindemann , der das Wirtschaftsstrafrecht auf Delikte beschränken will, die die Volkswirtschaft betreffen. Den Kern des Wirtschaftsstrafrechts würde nach dieser Vorstellung heute entsprechend der vorherrschenden neoliberalen Wirtschaftstheorie das Wettbewerbsstrafrecht bilden[56]. Typischerweise mit dem Wirtschaftsstrafrecht in Verbindung gebrachte Delikte (z. B. die §§ 263, 266 StGB) würden dagegen begrifflich ausgeschlossen sein. Entsprechendes gilt für die Ansätze von Tiedemann und Otto , soweit sie das Wirtschaftsstrafrecht auf Tatbestände zum Schutz der Wirtschaftsordnung beschränken wollen. Ähnliche Einwände müssen sich auch die Verfasser des Alternativentwurfs zum Wirtschaftsstrafrecht gefallen lassen, wenn sie das Rechtsgebiet auf Delikte beschränken wollen, die sozial-überindividuelle Belange des Wirtschaftsgeschehens schützen. Wichtige Bereiche des Produktstrafrechts, das explizit an Individualrechtsgüter anknüpft, wären damit aus dem Blick verloren[57]. Das Arbeitsschutzstrafrecht, der strafrechtliche Vermögensschutz und der strafrechtliche Umweltschutz würden ebenfalls aus dem Wirtschaftsstrafrecht herausfallen[58].
Ein weiterer elementarer Kritikpunkt betrifft den im Umgang mit der Vielfalt ökonomischer Sachverhalte und ihrem Einwirken in weite Bereiche des täglichen Lebens grundsätzlich beschrittenen Weg. Theoretisch bestehen zwei Pole, innerhalb derer sich diese dogmatischen Ansätze bewegen können:
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Den einen Pol bildet ein Rechtsdenken, das die Wirtschaft holistisch als organisches und überindividuelles Gebilde begreift, bestimmte Zusammenhänge (etwa die Wirtschaftslenkung, die Volkswirtschaft, den Wirtschaftsbetrieb, die Darbietungsehrlichkeit oder den Zahlungsverkehr) schützen will und das wirtschaftliche Geschehen von kollektiven Akteuren dominiert sieht[59]. Ein solches Verständnis legen die meisten der bisher in der Rechtswissenschaft erarbeiteten Definitionsversuche des Wirtschaftsstrafrechts nahe[60]. Dieser Herangehensweise ist freilich nur eine Dogmatik angemessen, die organisch überindividuelle Strukturen sinnvoll verarbeiten und hinreichend präzise steuern kann. Im Strafrecht wurde eine solche Dogmatik bislang jedenfalls noch nicht konsequent ausgearbeitet. Da es aus volkswirtschaftlich-überindividueller Perspektive irrelevant ist, ob sich ein Vermögensobjekt in der Hand der einen oder der anderen Person befindet und ob es auf legale oder kriminelle Weise erlangt wurde[61], hätte ein echt überindividueller Ansatz etwa dort nahezu unüberwindbare Schwierigkeiten, wo individuelle Wirtschaftsressourcen garantiert werden müssen. Wirtschaftsstrafrecht würde danach möglicherweise in erheblichem Umfang zu einem Institutionenschutzrecht mutieren; die Freiheit des Individuums würde hinter diesen Institutionenschutz zurücktreten. Exemplarisch kann diese Entwicklung an der Diskussion um die Möglichkeit einer Untreue des Geschäftsführers einer Einmann-GmbH gegenüber der GmbH aufgezeigt werden. Der Untreuetatbestand wird dort von überindividualistischen Auffassungen zu einer Garantie von Redlichkeit im Rechts- und Wirtschaftsverkehr umgestaltet[62]. Ob vor dem Hintergrund unserer individualistisch ausgerichteten verfassungsrechtlichen Ordnung ein überindividualistisches Wirtschaftsstrafrecht überhaupt konsequent entwickelt werden kann, erscheint freilich eher zweifelhaft.
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