Dieser politischen Führungsrolle entspricht auch die Besetzung des Europäischen Rates: In ihm versammeln sich mit den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaatendiejenigen, die an der Spitze der nationalen Exekutiven stehen und dort die politischen Richtlinien festlegen (vgl. Art. 65, 1 GG für Deutschland). Zudem gehört dem Europäischen Rat noch die Präsidentin der Kommissionan (Art. 15 II EUV). Die Leitung des Europäischen Rates obliegt dem im Lissabon-Vertrag geschaffenen Präsidenten des Europäischen Rates. Der Präsident wird vom Europäischen Rat für 2 ½ Jahre mit der Möglichkeit der einmaligen Wiederwahl gewählt (Art. 15 V EUV). Er darf kein einzelstaatliches Amt bekleiden, sondern muss insoweit „neutral“ sein.[20]
126
Der Europäische Rat tagt für gewöhnlich zweimal pro Halbjahr und wird stets von seinem Präsidenten einberufen (Art. 15 III EUV). Als ein Gremium, das sich als politisches Führungsgremium versteht, trifft der Europäische Rat seine Entscheidungen im Normalfall einvernehmlich(Art. 15 IV EUV). Dafür müssen nicht alle Mitglieder ausdrücklich zustimmen, aber es darf von keinem Staats- und Regierungschef (mehr) Widerspruch erhoben werden (die Kommissionspräsidentin und der Präsident des Europäischen Rates sind nicht stimmberechtigt, Art. 235 I UA 2 AEUV). Entsprechend internationalen Gepflogenheiten wird eben solange verhandelt, bis ein Konsens erreicht ist.[21] In Einzelfällen – insbesondere bei Personalentscheidungen – sind ausnahmsweise auch Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit gem. Art. 235 I UA 2 AEUV i.V.m. Art. 16 IV EUV vorgesehen.
Vertiefungshinweis:
Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 80-101.
a) Bedeutung und Zusammensetzung
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Der (Minister-)Rat ist das zentrale Entscheidungsorgan der EUmit legislativen, aber auch exekutiven Aufgaben. Trotz aller Aufwertungen, die das EP in den jüngeren Vertragsrevisionen erfahren hat, ist der (Minister-)Rat als Gesetzgebungsorgan dem EP mindestens ebenbürtig oder teilweise sogar überlegen (s.u., Rn. 135). Man kann den (Minister-)Rat als föderales Gesetzgebungsorgan der EU ansehen und insoweit innerdeutsch mit dem Bundesrat vergleichen. Allerdings ist auf EU-Ebene der (Minister-)Rat (immer noch) stärker als das EP, während in Deutschland dem Bundestag (gegenüber dem Bundesrat) die stärkere Rolle zukommt. Zugleich muss man aber auch hier den weiten Weg anerkennen, den die heutige Organstruktur zurückgelegt hat: Früher war der (Minister-)Rat das einzige Gesetzgebungsorgan und muss diese Funktion nun weitgehend mit dem EP teilen.
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Dem (Minister-)Rat gehört pro Mitgliedstaat ein nationaler Regierungsvertreterauf Ministerebene an, der für sein jeweiliges Land verbindlich entscheidet und damit auch die Verantwortung dafür gegenüber dem Parlament und der Bevölkerung seines Staates übernimmt (Art. 16 II EUV). Je nach Thema und politischem Sachgebiet variiert die konkrete Besetzung des (Minister-)Rates (Art. 16 VI UA 1 EUV). Denn welcher Minister sein Land im (Minister-)Rat repräsentiert, hängt von der jeweiligen Ressortzuständigkeit ab. Geht es um Finanzfragen, besteht der (Minister-)Rat aus den Finanzministern der EU-Staaten, sind dagegen Umweltthemen betroffen, treffen sich im (Minister-)Rat die nationalen Umweltminister. Insofern tritt der (Minister-)Rat in (derzeit zehn) verschiedenen „Ratsformationen“als jeweilige Fachministerkonferenz auf. Eine gewisse Koordinierung der verschiedenen Ratsbesetzungen erfolgt durch die Ratsformation „Rat Allgemeine Angelegenheiten“, in den die meisten Staaten ihren Außen- oder Europaminister entsenden (Art. 16 VI UA 2 EUV).
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Bei Fragen, für die in Deutschland ausschließlich die Länder zuständig sind, wird Deutschland im (Minister-)Rat durch einen fachlich zuständigen Landesminister(den der Bundesrat bestimmt) repräsentiert (Art. 23 VI GG). So wirkt zum Beispiel bei Fragen der schulischen Bildung ein Landeskultusminister (und nicht etwa die Bundesbildungsministerin) im (Minister-)Rat mit.
b) Arbeitsweise
130
Der Vorsitz des (Minister-)Rates wird im Regelfall von einem Mitgliedstaat – in allen Ratsformationen – für die Dauer von sechs Monaten wahrgenommen (sog. „Ratspräsidentschaft“).[22] Eine besondere Ausnahme gilt für den Rat „Auswärtige Angelegenheiten“, bei dem der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik den Vorsitz dauerhaft führt (Art. 18 III EUV). Dem Vorsitzenden obliegt insbesondere die Koordinierung, Organisation und Moderation der Ratstätigkeiten und die interinstitutionelle Außenvertretung gegenüber Kommission und EP.
bb) Mehrheitserfordernisse
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Für die Beschlüsse des (Minister-)Rates gibt es (im Wesentlichen[23]) drei verschiedene Mehrheitsbegriffe:
Abbildung 15: Mehrheitsbegriffe bei Ratsbeschlüssen (EU)
Mehrheitsbegriff |
Anforderungen |
Anwendungsbereich |
einfach |
Absolute Mehrheit der Mitglieder, also 14 bei 27 stimmberechtigten Mitgliedern; Stimmenthaltungen wirken wie Nein-Stimmen. |
Eher technische Fragen wie Geschäftsordnung (Art. 240 III AEUV), aber auch bei Amtsenthebungsanträgen gegenüber Kommissionsmitgliedern (Art. 245 II AEUV).[24] |
qualifiziert |
Mitglieder- und Bevölkerungsquorum (vgl. nachfolgenden Absatz) |
Regelfall gem. Art. 16 III EUV |
einstimmig |
Keine Gegenstimme (Enthaltungen sind unschädlich, Art. 238 IV AEUV) |
Besonders wichtige Fragen wie z.B. Mitgliederaufnahme (Art. 49 EUV) |
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Die sog. „qualifizierte Mehrheit“ gem. Art. 16 IV EUVsetzt eine doppelte Mehrheit voraus:[25]
– |
Zum einen müssen 55 % der Mitglieder (also der Staaten) dafür sein, also bei derzeit 27 Mitgliedern mindestens 15 (Staatenquorum). |
– |
Zum anderen müssen diese Staaten mindestens 65 % der Gesamtbevölkerung der EU repräsentieren (Bevölkerungsquorum), oder eine Mehrheit von mindestens 24 Staaten bilden.[26] |
Erfolgt der Beschluss nicht auf Vorschlag der Kommission oder des Hohen Vertreters der Union für Außen und Sicherheitspolitik, erhöht sich das Staatenquorum auf 72 % der Ratsmitglieder, also auf 20 der 27 Mitglieder (Art. 238 II AEUV).
c) Hauptaufgaben
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Die Stellung des (Minister-)Rates als „Herzstück“ des EU-Institutionengefüges wird vor allem dadurch erkennbar, dass bei ihm – unbeschadet der übergeordneten Führungsrolle des Europäischen Rates – im „politischen Alltag“ sozusagen die Fäden zusammenlaufen. Denn der (Minister-)Rat ist für die Festlegung und Koordinierung der EU-Politik zuständig (Art. 16 I EUV). Dies gilt nicht nur für die EU-Organe, sondern betrifft auch die Koordination der Wirtschaftspolitik der einzelnen Mitgliedstaaten (Art. 5 I UA 1 AEUV). Hier liegt eine starke exekutive Tätigkeit des (Minister-)Rates.
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Die Stellung des (Minister-)Rates bei der Rechtssetzung korrespondiert mit der bereits dargelegten Rolle des EP (s.o., Rn. 109 ff.). So kommt ein Rechtsakt im Ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gem. Art. 289 I AEUV nur durch eine „gemeinsame Annahme“ von (Minister-)Rat und EP zustande, weshalb hier beide Organe gleichgewichtig beteiligt sind (näher zum Verfahren s.u., Rn. 217 ff.).
135
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