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Die stärkste Beteiligungsform des EP liegt vor, wenn ihm ein Mitentscheidungsrecht(neben dem Ministerrat) eingeräumt ist. So verhält es sich beim sog. „Ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ gem. Art. 289 I, 294 AEUV (s.u., Rn. 217 ff.), das für zunehmend viele Kompetenzgebiete der EU gilt (derzeit 80 Fälle). Beim sog. „Besonderen Gesetzgebungsverfahren“ gem. Art. 289 II AEUV kann das EP sogar für die Verabschiedung eines Rechtsaktes – allerdings unter (zustimmender) Beteiligung des (Minister-)Rates – allein zuständig sein, was jedoch nur geringe praktische Bedeutung hat (nur 3 Fälle, die das EP selbst betreffen, z.B. Art. 223 II AEUV).[14] |
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Auch die klassische Ur-Kompetenz eines Parlaments, die gerne als „Königsrecht“ bezeichnete Haushaltsbewilligung, war lange Zeit eine Domäne des (Minister-)Rates. Seit Lissabon jedoch ist das EP gemeinsam mit dem (Minister-)Rat an der Haushaltsgesetzgebung im Rahmen eines in Art. 314 AEUV detailliert geregelten Verfahrens beteiligt:
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Abbildung 14:
Verfahren der Haushaltsaufstellung (EU)
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Die Kommission legt den Haushaltsentwurf dem (Minister-)Rat und dem EP vor, zu dem der (Minister-)Rat binnen eines Monats seinen Standpunkt definiert und begründet. |
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Das EP hat nun die Wahl, binnen 42 Tagen den Standpunkt des (Minister-)Rates ausdrücklich zu billigen oder dazu zu schweigen; in diesen Fällen ist der Haushaltsplan erlassen. Es kann aber auch innerhalb der genannten Frist Änderungen verlangen. Wenn der (Minister-)Rat nicht innerhalb von zehn Tagen alle Änderungswünsche des EPakzeptiert, wird der von EP und (Minister-)Rat paritätisch besetzte Vermittlungsausschuss angerufen. |
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Dieser Vermittlungsausschusssoll nun binnen drei Wochen eine Einigung herbeiführen; gelingt dies, haben EP und (Minister-)Rat zwei Wochen Zeit, das Ergebnis beiderseitig zu akzeptieren. Wenn keines der beiden Organe dagegen votiert, ist der Haushalt in der Form der Einigung zustande gekommen. Wendet sich nur der (Minister-)Rat dagegen, obwohl das Parlament die Einigung gebilligt hat, kann sich das Parlament in den Streitfragen mit einer 3/5-Mehrheit durchsetzen. |
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In allen übrigen Fällen – wenn schon keine Einigung im Vermittlungsausschuss zustande kommt oder das EP gegen das Vermittlungsergebnis votiert – muss die Kommission einen neuen Haushaltsentwurf vorlegen. |
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Während in parlamentarischen Demokratien das Parlament die Regierung wählt, ist es in Präsidialdemokratien i.d.R. auf Zustimmungsrechte beschränkt. Die EU hat insofern ein Mischmodell: Die Präsidentin der Kommission (die als Chefin der „Exekutive“ eine partielle Ähnlichkeit mit einem Regierungschef hat) wird vom EP gewählt (Art. 14 I 3 EUV). Dabei ist es allerdings formal gesehen nicht frei, sondern an einen Vorschlag des Europäischen Rates gebunden, der dabei die politischen Kräfteverhältnisse im EP zu berücksichtigen hat (Art. 17 VII UA 1 EUV).[15] Bei der Wahl des Kommissionspräsidenten 2014 war allerdings zu besichtigen, wie das Parlament durch geschicktes Agieren die Entscheidung dieser Personalfrage faktisch völlig an sich gezogen hat. 2019 war der Europäische Rat mit seinem Personaltableau dagegen schneller, während das EP keinen klaren Mehrheitsstandpunkt finden konnte und deshalb nur auf den Vorschlag des Europäischen Rates reagieren konnte. Die übrigen Mitglieder der Kommission (also die EU-Kommissare), der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und der Ratspräsident bedürfen einer Gemeinschafts-Zustimmung des EP, bevor sie vom Europäischen Rat ernannt werden können (Art. 17 VII UA 3 EUV).
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Eine weitere zentrale und typische Kernfunktion eines Parlaments liegt in der Kontrolle der Exekutive. Insbesondere gegenüber der Kommission ist dem EP auch eine solche Kontrollfunktion zugewiesen.
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Dies beginnt bei Fragerechten, die gegenüber der Kommission verbindlich und gegenüber dem (Minister-)Rat gewohnheitsrechtlich anerkannt[16] sind, |
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setzt sich fort mit dem Recht zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, der insbesondere Verstöße gegen das EU-Recht durch andere EU-Organe zum Gegenstand hat (Art. 226 AEUV), |
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und endet schließlich beim stärksten Instrument parlamentarischer Kontrolle, nämlich beim Misstrauensvotum (Art. 17 VIII EUV, 234 AEUV). So kann das EP gegenüber der Kommission (nur als Ganzes) mit einer 2/3-Mehrheit das Misstrauen aussprechen, was dann zur Amtsniederlegung der Kommission führt. |
Hinzu kommt als indirektes Kontrollinstrument die Möglichkeit des EP, gegen andere Organe vor dem EuGH vorzugehen (Art. 263 UA 2, 265 UA 1 AEUV, dazu s.u., Rn. 168).
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Somit ergibt sich in der Gesamtschau, dass das EP zwar noch Spielräume auf seinem Weg zu einem absolut vollwertigen Parlament hat. Dennoch ist angesichts der Dynamik der europäischen Integrationsentwicklung die bereits erfolgte erhebliche Stärkung des EP– die sicher noch nicht an ihrem Ende angelangt ist – zu würdigen und (gerade im Interesse des Demokratieprinzips) zu fördern.[17] Problematisch ist daher die zunehmend kritisch-abwertende Rechtsprechung des BVerfG gegenüber dem EP, wie sie im Lissabon-Urteil und überdeutlich in den beiden Sperrklausel-Urteilen zum Ausdruck gekommen ist.[18]
Vertiefungshinweis:
Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 73-79.
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Der Europäische Rat, der nicht mit dem (Minister-)Rat (nachfolgend) verwechselt werden darf, ist nicht in die legislative oder exekutive Tätigkeit der Union eingebunden, sondern schwebt als „politisches Leitorgan“[19] gewissermaßen über den anderen Organen. Denn der Europäische Rat „gibt der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür fest“ (Art. 15 I EUV).
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Diese herausgehobene Stellung des Europäischen Rates kommt auch in einigen zentralen Einzelbefugnissen besonders zum Ausdruck:
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So kommt dem Europäischen Rat die Wächterrolle über die grundlegenden Werteder Union (vgl. Art. 2 EUV) zu, indem er schwerwiegende Verletzungen dieser Werte durch einzelne EU-Staaten feststellen und mit Sanktionen belegen lassen kann (Art. 7 II, III EUV). |
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Außerdem kann er in begrenztem Umfang und mit Zustimmung der Mitgliedstaaten Änderungen der primärrechtlichen Verträge vornehmen (Art. 48 VI, VII EUV). |
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Ebenfalls zu den Aufgaben des Europäischen Rates gehört eine ganze Reihe hochrangiger Personalentscheidungen. So hat er das Vorschlagsrecht für das Amt des Kommissionspräsidenten (Art. 17 VII UA 1 EUV), was eine empfindliche Einschränkung des entsprechenden Wahlrechts des EP bedeutet. Zudem wirkt der Europäische Rat bei der Besetzung des (Minister-)Rates mit (Art. 236 AEUV) und ist für die Ernennung und Entlassung des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik zuständig (Art. 18 I EUV). Auch alle übrigen Kommissionsmitglieder werden vom Europäischen Rat nach Zustimmung des EP mit qualifizierter Mehrheit (s.u., Rn. 132) ernannt (Art. 17 VII UA 3 EUV). |
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