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Allerdings ist auch zu sehen, dass eine Nichtanwendbarkeitserklärung des BVerfG, mit der Unionsrecht nach einer Ultra-vires-Kontrolle oder einer Verfassungsidentitätskontrolle (oder einer in deren Rahmen durchgeführten Grundrechtskontrolle am Maßstab des Art. 1 GG) innerstaatlich für nicht anwendbar erklärt würde, eine rechtlich nicht mehr lösbare Kriseauslösen dürfte. Denn der EuGH wäre gemäß dem Prüfprogramm des BVerfG (s. Rn 203und Rn 226) vorab bereits mit Fragen der Auslegung oder Gültigkeit des betreffenden Unionsrechtsakts befasst gewesen. Die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens (Art. 258 AEUV) durch die Kommission gegen Deutschland vor dem EuGH wegen der Nichtanwendbarkeitserklärung des BVerfG wäre zwar möglich. Der EuGH dürfte aber auf seiner Rechtsprechung, wie er sie im Vorabentscheidungsverfahren in Bezug auf den konkreten Unionsrechtsakt schon abschließend zum Ausdruck gebracht hatte, weiterhin beharren. Gelöst werden könnte die Krise dann wohl nur noch politisch, zB im Wege einer Änderung des Unionsrechts.
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Zusammenfassung:Im Bereich der verfassungsrechtlichen Grundstrukturen geht das BVerfG von einem faktischen Vorrang des GG aus. Sowohl bei der Ultra-vires-Kontrolle als auch bei der Identitätskontrolle kann das BVerfG offensichtlich und erheblich kompetenzwidrige bzw den unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität des GG verletzende Maßnahmen der EU für in Deutschland unanwendbar erklären. Es handelt sich dabei nicht um eine eigentliche Vorranglösung, weil nicht eine Kollision zwischen Unionsrecht und deutschem Recht aufgelöst, sondern eher am Entstehen gehindert wird. Der Sache nach aber ist dem BVerfG zuzustimmen, dass dadurch sichergestellt wird, „dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbestehenden verfassungsrechtlichen Ermächtigung gilt“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 354).
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Bei einer Zusammenschau der drei vom BVerfG beanspruchten Kontrollinstrumente (Grundrechts-, Ultra-vires- und Identitätskontrolle) fällt auf, dass sie hinsichtlich des Prüfprogramms nicht einheitlich gehandhabtwerden. Während sich die Ultra-vires-Kontrolle und die Identitätskontrolle – wie auch das OMT-Verfahren (s. Rn 205) und der Beschluss vom 15. Januar 2015 (BVerfGE 140, S. 317 ff) zeigen – auf einen Unionsrechtsakt im Einzelfall beziehen und dabei zur Verwerfung eines individuellen Unionsrechtsaktes durch das BVerfG führen können, übt das BVerfG seine Verwerfungskompetenz für einzelne Unionsrechtsakte im Fall der Grundrechtskontrolle einstweilen in der Regel nicht aus. Gute Gründe sprechen dafür, auch im Bereich der Grundrechtskontrolle zur Einzelfallprüfung überzugehen (s. Dederer , JZ 2014, S. 313 ff, 317 f). In diese Richtung scheint zum einen das Vorratsdatenspeicherungs-Urteil (s. Rn 190 ff) zu weisen. Zum anderen nimmt das BVerfG im Wege der Identitätskontrolle über Art. 79 Abs. 3 iVm Art. 1 Abs. 1 GG nunmehr doch eine Grundrechtskontrolle im Einzelfall, allerdings beschränkt auf die Menschenwürdegarantie, in Anspruch (BVerfGE 140, S. 317 ff, 341).
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Darüber hinaus hat das BVerfG nur für den Fall der Ultra-vires-Kontrolle ein einigermaßen handhabbares Prüfprogramm entwickelt. Für die Identitätskontrolle ist dagegen die gerichtliche Kontrollintensität noch offen. Allerdings zeichnen sich insoweit Annäherungen an die Ultra-vires-Kontrolle ab. So hat das BVerfG auch für die Identitätskontrolle angenommen, dass zunächst der EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens(Art. 267 AEUV) einzuschalten ist (BVerfGE 134, S. 366 ff, 385; 140, S. 317 ff, 339: „[s]oweit erforderlich“).
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Dogmatisch lassen sich die drei Kontrollinstrumente (Grundrechts-, Ultra-vires- und Identitätskontrolle) einheitlichauf den Schutz der Verfassungsidentität(Art. 79 Abs. 3 GG) zurückführen. Grundrechtskontrolle- und Ultra-vires-Kontrolle sind somit nichts anderes als Konkretisierungen der Identitätskontrolle. Die Grundrechtskontrolle hat das BVerfG bereits im Solange I-Beschluss aus der „Identität der geltenden Verfassung“ heraus beansprucht. „(U)naufgebbares, zur Verfassungsstruktur des Grundgesetzes gehörendes Essentiale“ sei der „Grundrechtsteil des Grundgesetzes“ (BVerfGE 37, S. 271 ff, 279 f), jedenfalls (so im Solange II-Beschluss) die jenem GG-Abschnitt zugrunde liegenden „Rechtsprinzipien“ (BVerfGE 73, S. 339 ff, 375 f). Zur Verfassungsidentität gehört aber auch die „souveräne Staatlichkeit Deutschlands“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 343). Diese „souveräne Verfassungsstaatlichkeit“ muss dabei „nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung … gewahrt bleib(en)“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 347). Das BVerfG habe die Pflicht, „im Rahmen seiner Zuständigkeit“ zu prüfen, ob dieses Prinzip eingehalten wird (BVerfGE 123, S. 267 ff, 350). Dem dient die Ultra-vires-Kontrolle (BVerfGE 123, S. 267 ff, 353 f). Die gemeinsame Herleitung aller drei Kontrollinstrumente aus dem Schutz der Verfassungsidentität spricht für eine Vereinheitlichung der Prüfungsmaßstäbe (s. Dederer , JZ 2014, S. 313 ff, 316 ff).
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Zum Grundsatz der „Europarechtsfreundlichkeit“des GG s. Rn 251 ff.
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Lösung Fall 4 ( Rn 108):
I. Zulässigkeit(Art. 100 Abs. 1 GG, § 13 Nr 11, §§ 80 ff BVerfGG)
1. Vorlagegegenstand
Vorlagegegenstand im Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG ist nach hL und ständiger Rechtsprechung des BVerfG grundsätzlich nur ein förmliches, nachkonstitutionelles deutsches Gesetz. Im Falle von Verordnungen lässt das BVerfG davon eine Ausnahme zu (s. Rn 172). Demzufolge handelt es sich um einen zulässigen Vorlagegegenstand.
2. Vorlageberechtigung
Es muss sich bei dem vorlegenden Gericht um ein Gericht iSv Art. 92 GG handeln. Dies ist bei einem Verwaltungsgericht der Fall.
3. Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit
Das vorlegende Gericht muss von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm überzeugt sein. Zweifel genügen nicht. Laut Sachverhalt kann man davon ausgehen, dass das Verwaltungsgericht, da es die Ansicht der Klägerin teilt, von der Verfassungswidrigkeit der Verordnung überzeugt ist.
4. Entscheidungserheblichkeit
Die Vorlage ist nur zulässig, wenn die vorgelegte Norm entscheidungserheblich ist, wenn daher die Entscheidung des vorlegenden Gerichts bei Nichtigkeit der vorgelegten Norm anders ausfallen würde als bei deren Gültigkeit. Die Verordnung ist für das Verwaltungsgericht entscheidungserheblich. Bei deren Nichtigkeit müsste es der Klage stattgeben, bei deren Gültigkeit müsste es die Klage abweisen.
5. Form
Die Form der Vorlage richtet sich nach § 80 Abs. 2, § 23 Abs. 1 BVerfGG. Laut Sachverhalt erfolgte die Vorlage formgerecht.
6. Auflösend bedingte Unzulässigkeit der Vorlage von Verordnungen
Das BVerfG hat die Vorlage von Verordnungen der Europäischen Gemeinschaft (jetzt auf Verordnungen der EU übertragbar) im Solange II-Beschluss jedoch deswegen für unzulässig erklärt, weil (und solange) der durch die EU gewährte Grundrechtsschutz dem vom Grundgesetz gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleichzuachten ist. Diese durch den „Solange-Vorbehalt“ auflösend bedingte „Zulässigkeitsvoraussetzung“ ist nur durch die Eigenheit der Materie bzw die dazu ergangene Rechtsprechung des BVerfG zu erklären, sodass das „herkömmliche“ Prüfungsschema für Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG diesen Punkt nicht vorsieht. Genau betrachtet handelt es sich auch nicht um eine Frage der Zulässigkeit, sondern um eine Art Begründetheitsprüfung auf der Zulässigkeitsebene, die am ehesten mit der Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde bei mangelnder Erfolgsaussicht oder offensichtlicher Unbegründetheit vergleichbar ist. Jedenfalls ist der Grundrechtsschutz durch die EU zurzeit noch „im wesentlichen gleichzuachten“. Dies ergibt sich aus der Rechtsprechung des EuGH zu den Grundrechten der Berufsfreiheit und des Eigentums sowie aus den Artikeln 15 und 17 der Charta der Grundrechte (s. Rn 593 ff). Die Vorlage ist daher unzulässig.
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