b) Unmittelbare Anwendbarkeit
33
Hinsichtlich der unmittelbaren Anwendbarkeit einer völkerrechtlichen Norm ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs Vorraussetzung, dass diese unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Zweck und die Natur des Abkommens eine klare und präzise Verpflichtung enthält, deren Erfüllung und deren Wirkung nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängen,[33] d.h. dass die Verpflichtung sowohl inhaltlich unbedingt als auch hinreichend bestimmt bzw. präzise ist („self-executing“-Charakter) (siehe Fall 3, Rn. 201; Fall 5, Rn. 354und Fall 15, Rn. 899).[34]
34
So hält der Gerichtshof etwa die Vorschriften des GATT nicht für unmittelbar anwendbar, da das GATT nach seiner Präambel auf Grundlage der Gegenseitigkeit und dem gemeinsamen Nutzen ausgehandelt wurde und die Zugeständnisse im Rahmen des GATT damit durch diplomatische Rücksprache mit den betroffenen Vertragsparteien ausgesetzt bzw. geändert werden können, sodass die GATT-Vorschriften durch eine große „Geschmeidigkeit“ gekennzeichnet sind.[35] Angesicht dieser großen Flexibilität der GATT-Bestimmungen, vor allem bezüglich etwaiger Abweichungen von den allgemeinen Regeln, kann grundsätzlich nicht von einer Unbedingtheit der GATT-Verpflichtungen ausgegangen werden. An dieser Rechtsprechung hat der Gerichtshof auch nach Gründung der WTO festgehalten (siehe Fall 15, Rn. 899).[36]
3. Die autonome Handelspolitik der Union
35
Demgegenüber kann die Union im Rahmen der autonomen Handelspolitik gemäß Art. 207 Abs. 2 AEUV Verordnungen, d.h. interne Unionsrechtsakte, zur Regulierung des Handels mit Drittstaaten erlassen, etwa Ein- und Ausfuhrbeschränkungen oder die Einführung von Schutzmaßnahmen (siehe Fall 8, Rn. 510). Hinzu kommt die Kompetenz für den Erlass des gemeinsamen Zolltarifs gemäß Art. 31 AEUV. Der Inhalt dieser handelsregulierenden Instrumente wird regelmäßig durch die vertragliche Handelspolitik beeinflusst, da sich die Union nicht zuletzt dem WTO-Rechtsregime und damit internationalen Handelsregelungen unterworfen hat.
IV. Die Wirtschafts- und Währungsunion
36
Die Begrifflichkeiten der Wirtschafts- und Währungsunion werden zwar regelmäßig „in einem Atemzug“ genannt, was durchaus eine gewisse Zusammengehörigkeit bzw. Verzahnung beider Bereiche belegt. Die Wirtschaftsunion sowie Währungsunion stellen allerdings zwei kompetenziell klar abzugrenzende und unterschiedlich integrierte Bereiche des Unionsrecht dar. Während das zentrale Element der Währungsunion die einheitliche Währung, der „Euro“, in der sogenannten Eurozone einschließlich des gemäß Art. 127 Abs. 1 AEUV vorrangigen geldpolitischen Mandats der Gewährleistung der Preisstabilität durch die Europäische Zentralbank (EZB) eine ausschließliche Zuständigkeit der Union (vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. c AEUV) ist, verbleibt der Kompetenzbereich der Wirtschaftspolitik bei den Mitgliedstaaten, zwischen denen gemäß Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 AEUV i.V.m. Art. 119 Abs. 1 AEUV lediglich eine enge wirtschaftspolitische Koordinierung stattfindet, die gemäß Art. 119 Abs. 1, 120 S. 2 AEUV dem Grundsatz der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist.[37]
37
Angesichts der lediglich koordinationsbasierten wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten ist deren Verpflichtung zur Vermeidung übermäßiger öffentlicher Defizite gemäß Art. 126 Abs. 1 AEUV und damit zur soliden Haushaltspolitik von besonderer Bedeutung. Die Haushaltdisziplin drückt sich gemäß dem Defizitprotokoll i.V.m. Art. 126 Abs. 2 S. 2 AEUV durch die Einhaltung der Referenzwerte von maximal 3% Nettoneuverschuldung und maximal 60% des Bruttoinlandprodukts als Gesamtschuldenstand aus, die vor allem für die Euro-Staaten finanzpolitische Stabilität gewährleisten soll. Zu beachten ist, dass die Pflicht zur Vermeidung öffentlicher Defizite gemäß Art. 139 Abs. 2 S. 1 lit. b AEUV für die Euro-Mitgliedstaaten uneingeschränkt gilt. Wenngleich die Einhaltung der Haushaltsdisziplin gemäß Art. 126 Abs. 10 AEUV nicht im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens durchsetzbar ist, enthält Art. 126 Abs. 2 bis 11 AEUV einen von der Kommission und dem Rat durchgeführten Überwachungsmechanismus einschließlich etwaiger Sanktionierungsmöglichkeiten durch den Rat (siehe eine typische Fallkonstellation der Finanz- und Staatsschuldenkrise in Fall 13, Rn. 771 ff.).[38]
C. Teilgebiete des Internationalen Wirtschaftsrechts
I. Allgemeines Völkerrecht
38
Die Relevanz des allgemeinen Völkerrechts im Europäischen und Internationalen Wirtschaftsrecht folgt vor allem daraus, dass die internationalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen in erster Linie völkervertragsrechtlich in Form von bi-, pluri- oder multilateralen Abkommen zwischen den souveränen Staaten ausgestaltet sind. Die völkerrechtlichen Handels- und Wirtschaftsabkommen werden damit im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. a IGH-Statut zur praktisch bedeutsamsten Quelle des Wirtschaftsvölkerrechts. So beruht beispielsweise sowohl die Gründung der Europäischen Union als auch die Errichtung der WTO auf völkerrechtlichen Verträgen. Dabei ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass sich die Rechtsnatur der jeweils neu gestalteten Rechtsordnungen von der Qualität des Gründungsaktes löst und sich zumindest im Verhältnis zu den Vertragsparteien bzw. Mitgliedstaaten von traditionellen völkerrechtlichen Verträgen unterscheidet.[39] Im Falle der Unionsverträge als Rechtsordnung sui generis hat dies zur Folge, dass die allgemein völkerrechtlichen Auslegungsregeln nach der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) im unionalen Binnenbereich grundsätzlich keine Anwendung finden (siehe Fall 1, Rn. 104 ff.).
39
Die rechtliche Ausgestaltung der internationalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen erfolgt grundsätzlich durch die Nationalstaaten selbst als originäre Völkerrechtssubjekte, die aufgrund der ihnen zukommenden Souveränität in Bezug auf das jeweilige Staatsgebiet (Gebietshoheit) und die jeweilige Bevölkerung (Personalhoheit) entsprechende zwischenstaatliche und völkerrechtlich bindende Übereinkünfte u.a. wirtschaftsrechtlicher Art schließen können. Demgegenüber geht die wirtschaftliche Tätigkeit in internationalen Wirtschaftsbeziehungen weit überwiegend von trans- oder multinationalen Unternehmen aus, die mangels Völkerrechtssubjektivität nicht Vertragspartei von völkerrechtlichen Abkommen sein können. Dies bedeutet wiederum nicht, dass Private im Rahmen von völkerrechtlichen Verträgen keine eigenständigen, unmittelbar anwendbaren Rechte erhalten können. So werden private Investoren in bilateralen Investitionsschutzabkommen regelmäßig etwa mit Klagerechten ausgestattet, die diese zur Initiierung von Investor-Staat-Streitbelegungsverfahren berechtigen. Unmittelbare Rechtswirkung der wirtschaftsvölkerrechtlichen Abkommen zugunsten Privater ist allerdings regelmäßig von den Vertragsparteien nicht gewollt, sodass – zumindest in neuerer Zeit – eine unmittelbare Anwendbarkeit von völkerrechtlichen (Handels-)Abkommen explizit ausgeschlossen wird. Ansonsten bedarf es einer Auslegung konkreter Vorschriften hinsichtlich ihrer hinreichenden Bestimmtheit und Unbedingtheit.
40
Maßgebliche Bedeutung erlangt das allgemeine Völkerrecht im Europäischen und Internationalen Wirtschaftsrecht darüber hinaus regelmäßig im Rahmen von kodifiziertem Völkergewohnheitsrecht, etwa der WVK oder auch den Regeln über die Deliktshaftung der Staaten wegen der Verantwortlichkeit für völkerrechtswidriges Handeln, die in den ILC Draft Articles niedergeschrieben sind. So hat etwa die UN-Völkerrechtskommission (International Law Commission [ILC]) mit den ILC Draft Articles eine Verschriftlichung der Regeln zur deliktischen Staatenverantwortlichkeit erreicht, die mit der Resolution 56/83 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 12.12.2001 angenommen wurde. Eine völkervertragsrechtliche Grundlage i.S.v. Art. 38 Abs. 1 lit. a IGH-Statut für die völkerrechtliche Verantwortlichkeit von Staaten für völkerrechtswidriges Handeln oder Unterlassen existiert damit allerdings nicht. Verbindlichen Charakter erhält die völkerrechtliche Staatenverantwortlichkeit weiterhin vielmehr „lediglich“ als Gewohnheitsrecht i.S.v. Art. 38 Abs. 1 lit. b IGH-Statut (siehe Fall 16, Rn. 932).
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