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JURIQ-Klausurtipp
In der Fallbearbeitung kann die Normenhierarchie in zweifacher Hinsicht Bedeutung erlangen:
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Bei der Frage, ob die niederrangige Vorschrift wegen Verstoßes gegen eine höherrangige un wirksambzw. – bei Kollision des nationalen Rechts mit dem EU-Recht – un anwendbarist ( Rn. 50 ff.). |
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Bei der „ rangkonformen Auslegung“ der (wirksamen und anwendbaren) niederrangigen Vorschrift (Rn. 170).[65] |
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Steht die zur Lösung der jeweiligen Fallfrage aufgefundene niederrangige Rechtsnorm mit dem höherrangigen Recht in Einklang, d.h. ist sie gültig (wirksam) und verstößt sie auch nicht gegen das EU-Recht, so vollzieht sich die praktische Rechtsanwendung allein anhand dieser rangniederen Vorschrift.[66] Ein Rückgriff auf eine höherrangige Rechtsnorm – etwa, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen der rangniederen Vorschrift im konkreten Fall nicht erfüllt sind – ist dagegen grundsätzlich nicht zulässig.[67] Das höherrangige, typischerweise von einem sehr hohen Abstraktionsgrad gekennzeichnete Recht spielt demnach also nur als Prüfungsmaßstab und als Auslegungsdirektive für die ihm untergeordneten, vergleichsweise detaillierter formulierten Rechtssätze eine Rolle (vgl. Rn. 166 ff.), wird aber durch diese im Hinblick auf die konkrete Falllösung gesperrt.[68] „Bei der Anwendung von Gesetzen ist also – bezogen auf die Normenpyramide –, von unten (,konkretere Norm‘) nach oben‚ (abstraktere Norm) vorzugehen“, sog. „Anwendungsvorrang der (wirksamen und EU-rechtskonformen) rangniederen vor der ranghöheren Rechtsnorm.“[69]
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Beispiel[70]
Sollte es im weitergeführten „Eckkneipen-Fall“ ( Rn. 59) zwischen A und N zu einem Rechtsstreit bzgl. der gegenseitigen Rechte und Pflichten aus dem zwischen ihnen geschlossenen Werkvertrag kommen, so gelangen insoweit die §§ 631 ff. BGB zur Anwendung, nicht dagegen etwa Art. 2 Abs. 1 bzw. Art. 12 Abs. 1 GG (Vertragsfreiheit). Bedeutung kommt Art. 2 Abs. 1 bzw. Art. 12 Abs. 1 GG in diesem Zusammenhang allein dahingehend zu, dass die insofern nachrangigen §§ 631 ff. BGB keine Regelungen treffen dürfen, die inhaltlich in Widerspruch zu den aus Art. 2 Abs. 1 bzw. Art. 12 Abs. 1 GG resultierenden Vorgaben stehen bzw. die §§ 631 ff. BGB im Lichte dieser Verfassungsbestimmung zu interpretieren sind.
1. Teil Einführung› C. Wirksamkeit und Anwendbarkeit einer Rechtsnorm› II. Konkurrenzregeln
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Zur Auflösung von Konkurrenzen zwischen Vorschriften, die sich auf derselben[71] Stufe der Normenpyramide befinden, existieren die beiden nachfolgenden Regeln, die als allgemeine Rechtsgrundsätze jeweils auch ohne ausdrückliche gesetzliche Anordnung (so aber z.B. § 8 Abs. 1 Hs. 2 PolG NRW[72] bzw. Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG) gelten.[73] Soweit eine dieser zwei[74] Regeln eingreift, liegt ein Fall der „verdrängenden“ bzw. „ konsumtiven Normenkonkurrenz“ vor.[75]
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Die spezielle Rechtsnorm verdrängt die allgemeine Rechtsnorm („lex specialis derogat legi generali“) .[76] Hintergrund dessen ist die Überlegung, dass die spezielle Rechtsnorm eine sachnähere und damit -gerechtere Regelung des betreffenden Lebenssachverhalts trifft als die allgemeine, welche darüber hinaus noch weitere Konstellationen abdecken muss.[77] Deshalb darf Erstere vom Rechtsanwender nicht durch Rückgriff auf Letztere unterlaufen bzw. ihr Zweck vereitelt werden.[78] I.d.S. spezieller ist eine Vorschrift gegenüber einer anderen dann, wenn |
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– Erstere zusätzlich zu sämtlichen Tatbestandsmerkmalen (z.B. t 1+ t 2+ t 3) der Letzteren mindestens noch eine weitere – eben „spezielle“ – tatbestandliche Voraussetzung enthält (z.B. t 4),[79] d.h. sich beide zueinander verhalten wie zwei Kreise, „von denen der eine vollständig innerhalb des anderen liegt“[80] (so z.B. die Privilegierung des § 216 StGB im Verhältnis zum Grundtatbestand des § 212 StGB[81]), und |
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– die Rechtsfolgen der beiden zueinander im Konkurrenzverhältnis stehenden Vorschriften sich gegenseitig ausschließen, sog. logische Spezialität.[82] Andernfalls, d.h. soweit ihre Rechtsfolgen miteinander verträglich sind, ist durch Auslegung zu ermitteln, ob die Rechtsfolgen der auf Seite des Tatbestands spezielleren Rechtsnorm (z.B. Art. 8 Abs. 1 GG: Schutz nur von friedlichen Versammlungen ohne Waffen) i.S.e. abschließenden Regelung an die Stelle der Rechtsfolgen der hiernach allgemeinen Vorschrift treten sollen (dann z.B. überhaupt kein grundrechtlicher Schutz von unfriedlichen Versammlungen bzw. solchen mit Waffen, auch nicht durch Art. 2 Abs. 1 GG; str.) oder aber diese modifizieren bzw. bloß ergänzen.[83] |
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Beispiel[84]
Wird Z im „Cocktailbar-Fall“ ( Rn. 2) wegen Raubes nach § 249 Abs. 1 StGB angeklagt und befindet das Gericht ihn hiernach für schuldig, so ist er daneben nicht auch noch wegen Diebstahls nach § 242 Abs. 1 StGB zu verurteilen. Denn weil § 249 Abs. 1 StGB unter Einschluss sämtlicher Tatbestandsmerkmale des § 242 Abs. 1 StGB („ Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen “) noch weitere Voraussetzungen beinhaltet („ mit Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben “), handelt es sich bei § 249 Abs. 1 StGB (Bestrafung „ mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr “) im Verhältnis zu § 242 Abs. 1 StGB (Bestrafung „ mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe “) um die speziellere Vorschrift. Folglich wird die allgemeine Vorschrift des § 242 Abs. 1 StGB nach dem lex specialis -Grundsatz durch die spezielle Vorschrift des § 249 Abs. 1 StGB verdrängt. Entsprechendes gilt ebenfalls im Hinblick auf den Nötigungstatbestand des § 240 Abs. 1 StGB.
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Im Ergebnis ebenso zu entscheiden sein kann das Konkurrenzverhältnis auch dann, wenn sich die Tatbestände der im konkreten Fall in Betracht kommenden Rechtssätze „zueinander wie zwei sich überschneidende Kreiseverhalten.“[85] Schließlich kann die Auslegung auch dazu führen, dass eine Vorschrift eine andere selbst dann im Wege der Spezialität verdrängt, wenn beide Tatbestände an unterschiedliche Merkmale anknüpfen, sog. „ inhaltliche Spezialität“ (so z.B. die Sachmängelgewährleistungsrechte aus § 437 BGB im Verhältnis zum Anfechtungsrecht nach § 119 Abs. 2 BGB).[86]
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Soweit danach in Bezug auf zwei Rechtssätze ein Spezialitätsverhältnis zu bejahen ist, hat dies zur Folge, dass die spezielle Vorschrift die Anwendbarkeit der allgemeinen im konkreten Fall ausschließt, sog. Anwendungsvorrang der spezielle n vor der allgemeinen Rechtsnorm.[87]
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JURIQ-Klausurtipp
„Aufhänger“ für die Prüfung des lex specialis -Grundsatzes in der Fallbearbeitung ist die Frage, ob die allgemeine Vorschrift anwendbarist. Dies ist u.a. dann nicht der Fall, wenn sie durch eine spezielle Regelung verdrängt wird, welche mithin zuerst zu prüfen ist.[88]
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