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Dieses Ergebnis wird von den Vertretern der personalen Vermögenslehrezu Recht bestritten.[121] Sie verstehen Vermögen als das einer Person zustehende wirtschaftliche Entfaltungspotenzial und damit als Grundlage für die Freiheitsausübung durch finanzielle Mittel.[122] Auf diese Weise verschiebt die personale Vermögenslehre den Schwerpunkt des Vermögensschutzes von dem Erhalt des wirtschaftlichen Bestandes zu einer Gewährleistung individueller Dispositionsfreiheit.[123] Folgerichtig wird der Vermögensschaden nicht auf einen objektiven materiellen Verlust beschränkt, sondern bezieht auch Ausgaben ein, die aus Sicht des Vermögensträgers den vereinbarten Zweck verfehlen. Bei Lieferung eines Aliud wird die verfügungsbedingte Einbuße an wirtschaftlicher Potenz nicht durch einen für den Träger relevanten Gegenwert kompensiert. Seine Ausgabe bleibt eine Fehlinvestition, auch wenn er im Austausch eine zwar finanziell angemessene, aber von ihm nicht gewünschte Gegenleistung erhält.[124]
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Obwohl die herrschende wirtschaftliche Lehreden personalen Vermögensbetriff ablehnt, korrigiert sie in besonders gravierenden Fällen die Ergebnisse der objektiven Saldierung durch den Gedanken des „ persönlichen Schadenseinschlags“.[125] Trotz eines marktgerechten Verhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung soll ein Vermögensschaden dann vorliegen, wenn (1) „dem Opfer Mittel entzogen werden, die für die ordnungsgemäße Erfüllung seiner sonstigen Verbindlichkeiten sowie für eine angemessene Wirtschafts- und Lebensführung unerlässlich sind“, (2) „das Opfer zu weiteren vermögensschädigenden Maßnahmen genötigt wird“ oder (3) „das Opfer die Gegenleistung nicht oder nicht in vollem Umfang zu dem vertraglich vorausgesetzten Zweck oder in anderer zumutbarer Weise verwenden kann.“[126] Die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze beschränken sich jedoch auf wenige Ausnahmekonstellationen. So soll es auch bei dem Erwerb ungeeigneter Leistungen (Fallgruppe 3) an einem Vermögensschaden fehlen, wenn der Geschädigte für eine ihm unter Androhung von Gewalt verkaufte Sache „mit zumutbarem Einsatz“ einen kompensatorischen Gegenwert erzielen könnte.[127] Damit wird aber dem Opfer der Tat aufgegeben, den ihm zugefügten Nachteil durch eigeninitiative Weiterveräußerung des für seine Zwecke nutzlosen Gegenstandes abzuwenden.
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Der Rechtsprechung und der herrschenden Lehre wird vorgehalten, dass sie durch die Lehre vom persönlichen Schadenseinschlag entgegen ihrer theoretischen Grundannahme die individuelle Dispositionsfreiheit schützen.[128] Zwar rekurriert das Modell auf wirtschaftliche Elemente, letztlich wird der Vermögensschaden jedoch durch die Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse des Geschädigten subjektiviert; die gleiche Verfügung kann bei einer Person als Herbeiführung eines Schadens bewertet werden (etwa wenn sie zur Finanzierung einen Kredit aufnehmen muss), bei einer anderen hingegen nicht.[129] Durch die Korrektur der rein wirtschaftlichen Schadensbestimmung hat die Rechtsprechung die Prämissen der Saldierungstheorie partiell aufgegeben, ohne dass sie sich jedoch zu einer konsequenten Neudeutung und Erweiterung des Schadensbegriffs hätte entschließen können.
2. Gefährdungen des Vermögens
a) Gefährdung als Schaden
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Als Vermögensschaden werden in Rechtsprechung und Schrifttum auch konkrete Gefährdungen des Vermögens anerkannt, sofern sie bei wirtschaftlicher Betrachtung bereits eine Verschlechterung der gegenwärtigen Vermögenslage bedeuten.[130] Der von §§ 263, 266 StGB vorausgesetzte Schadenseintritt soll in Fällen der „ schadensgleichen Vermögensgefährdung“ also auch dann zu bejahen sein, wenn sich der Nachteil letztlich nicht endgültig realisiert.[131] Aus der Perspektive eines wirtschaftlichen Schadensverständnisses ist diese Ausdehnung konsequent: Bereits die Gefahr eines drohenden Verlustes kann eine Vermögensposition mindern,[132] etwa bei der Auszahlung eines ungesicherten Kredits an einen zahlungsunfähigen Empfänger.[133]
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Eine Vorverlagerung des Schadenseintritts in den Bereich der Gefährdung birgt allerdings das Risiko einer Auflösung der Grenzen insbesondere des Untreuetatbestandes; schließlich darf durch eine weite Auslegung des Schadensbegriffs nicht die Entscheidung des Gesetzgebers umgangen werden, allein die vollendete und nicht die versuchte Untreue unter Strafe zu stellen. Anders als beim Betrug existiert in § 266 StGB auch kein Korrektiv im subjektiven Tatbestand: Während § 263 StGB eine Bereicherungsabsicht des Täters und damit den Willen zur Herbeiführung eines endgültigen Schadens verlangt, wird nach dem Wortlaut des § 266 StGB keine besondere Intention des Täters vorausgesetzt. Um eine „rechtsstaatlich bedenkliche“ Vorverlagerung der Untreuestrafbarkeit zu vermeiden, vertritt jedoch der 2. Strafsenat[134] – und ihm folgend der 5. Strafsenat[135] –, dass der Täter nicht nur die Vermögensgefährdung hinnehmen, sondern zugleich die Realisierung dieser Gefahr billigen muss. Die Annahme einer solchen „überschießenden Innentendenz“[136] in § 266 StGB ist höchstrichterlich indes nicht unbestritten; der 1. Strafsenat geht davon aus, dass es sich bei der Gefahr einer Vorverlagerung der Untreuestrafbarkeit um eine „Scheinproblematik“ handele, solange nur eine „exakte Betrachtung des tatsächlichen wirtschaftlichen Nachteils“ erfolge.[137]
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Das Bundesverfassungsgerichthat in seiner Grundsatzentscheidungvom 23. Juni 2010 die Figur der schadensgleichen Vermögensgefährdung gebilligt, zugleich aber – im Sinne des 1. Strafsenates – hohe Anforderungen an den Nachweis eines wirtschaftlichen Nachteils gestellt.[138] Um eine verfassungswidrige Überdehnung des Untreuetatbestands zu vermeiden, könne der Rückgriff auf „diffuse Verlustwahrscheinlichkeiten“ nicht genügen. Vielmehr müsse der Gefährdungsschaden von den Gerichten „in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise“ anhand „anerkannter Bewertungsverfahren und -maßstäbe“ festgestellt werden; für eine im Einzelfall erforderliche, komplexe ökonomische Analyse seien Sachverständige hinzuzuziehen.[139] Letztlich erweist sich der Begriff des Gefährdungsschadens zwar nicht als „irreführende“[140], wohl aber als weithin überflüssige Kategorie. Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ist die schadensgleiche Vermögensgefährdung lediglich eine spezielle Spielart des Vermögensschadens, der nach besonderen bilanztechnischen Regeln zu berechnen ist; die Figur stellt daher keine Abkehr von den geltenden Prämissen der Schadensdefinition dar.[141]
b) Strafbarkeit abstrakter Vermögensgefährdungen
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Der Gesetzgeber hat in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Tatbestände geschaffen, die bereits abstrakte Gefahren für vermögenswerte Güterunter Strafe stellen. So ist etwa nach § 264a StGB strafbar, wer in einem Verkaufsprospekt falsche Angaben zu Wertpapieren macht; selbst wenn die Wertpapiere tatsächlich nie veräußert werden.[142] Ebenso setzt der Kreditbetrug in § 265b StGB den Eintritt eines Schadens nicht voraus; es genügt die Angabe falscher Daten gegenüber dem kreditgebenden Unternehmen.[143] Noch weiter reicht § 265 StGB, der bereits Vorbereitungshandlungen für die Begehung eines Versicherungsbetruges unter Strafe stellt.[144]
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Die Wissenschaft steht diesem „Trend zum abstrakten Gefährdungsdelikt als Prototyp des Wirtschaftsstrafrechts“[145] überwiegend kritisch gegenüber.[146] In der Tat kann die Ausweitung des Strafrechts auf das Vorfeld tatsächlicher Rechtsgutsverletzungen rechtspolitischen (und möglicherweise auch verfassungsrechtlichen) Bedenken begegnen. Dies ist dann der Fall, wenn der Gesetzgeber durch die Pönalisierung lediglich abstrakt gefährlichen Verhaltens kein selbstständiges Unrecht normieren, sondern jene Beweisprobleme umgehen möchte, die üblicherweise mit Erfolgsdelikten verbunden sind.[147] Richtigerweise kann ein Verhalten nur dann unter Strafe gestellt werden, wenn ihm typischerweise eine Gefährdung für das Rechtsgut innewohnt. Welche Anforderungen an die Darlegung der abstrakten Gefährlichkeit an den Gesetzgeber zu stellen sind, ist noch ungeklärt; bloße Spekulationen ohne empirische oder evidenzbasierte Grundlage dürften jedenfalls nicht genügen.
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