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Noch nicht abschließend bewältigte Probleme zeichnen sich im Bereich möglicher Altersdiskriminierung ab. Während das Unionsrecht Unterscheidungen nach dem Alter nur bei objektiven Erfordernissen und im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zulässt,[282] knüpft das deutsche Beamtenrecht in zentralen Bereichen[283] weiterhin an das Alter an. Eine notwendig regelungszweckspezifische Rechtfertigung wird zwangsläufig dem Beamtenrecht punktuelle Modifikationen zur Anpassung an unionsrechtliche Vorgaben abverlangen.[284] Gleiches gilt für die Hinterbliebenenversorgung, die nach deutschem Beamtenrecht eingetragenen gleichgeschlechtlichen Lebenspartnern unionsrechtswidrig vorenthalten wird.[285]
3. Verfahren
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Es entspricht der deutschen Verwaltungsrechtstradition, die Verwirklichung des materiellen Rechts zum Dreh- und Angelpunkt des Verwaltungsrechts zu machen, während dem Verfahren ein vergleichsweise geringer Stellenwert zukommt.[286] Dem Verfahren wird gegenüber dem materiellen Recht eine hauptsächlich „dienende Funktion“ zugemessen;[287] es ist der „Weg zur Entscheidung als Endprodukt“[288]. Dabei dominiert vor allem in der Verwaltungsgerichtsbarkeit die Überzeugung, dass diese dienende Funktion grundsätzlich auch ohne Sanktionierung von Verfahrensfehlern erfüllt werden kann.[289] Der Charakter des Verwaltungsverfahrens auch als Teil des Rechtskonkretisierungsprozesses[290] wird vom deutschen Recht zwar im Prinzip anerkannt, jedoch letztlich nur unzureichend in operable Regelungsstrukturen übersetzt, die diesen prozeduralen Eigenleistungen auch konkret Rechnung tragen würden.[291]
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Diese Grundhaltung gegenüber dem Verfahren spiegelt sich in der verwaltungsrechtlichen Fehlerfolgenlehre wider:[292] Verfahrensfehler lassen die Wirksamkeit eines ergangenen Verwaltungsakts grundsätzlich unberührt (vgl. § 44 VwVfG). Darüber hinaus sind sie im Rechtsbehelfsverfahren im Regelfall unbeachtlich. Zum einen können sie bis zum Abschluss der letzten gerichtlichen Tatsacheninstanz im Grundsatz dadurch geheilt werden, dass die unterbliebene oder fehlerhafte Verfahrenshandlung nachgeholt wird (§ 45 Abs. 1 und 2 VwVfG; vgl. für die Umwelt-verträglichkeitsprüfung auch § 4 Abs. 1 Satz 2 UmwRG). Zum anderen ist die Mehrzahl der Verfahrensfehler, die nicht geheilt wurden, nach der prozessökonomisch begründeten und – abgesehen von einzelnen Durchbrechungen (vgl. erneut für die Umweltverträglichkeitsprüfung § 4 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 UmwRG[293]) – zu einem allgemeinen Fehlerfolgenprinzip („Auswirkungs-Kriterium“) hypostasierten[294] Vorschrift des § 46 VwVfG jedenfalls unbeachtlich, soweit „offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat“.[295]
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Ungeachtet dessen gründet auch das deutsche Verwaltungsverfahrensrecht auf allgemeinen rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätzen und Verfahrensrechten der Beteiligten, Dritter sowie der Öffentlichkeit.[296] Hierzu gehören insbesondere: der Amtsermittlungsgrundsatz, wonach die Behörde den relevanten Sachverhalt von Amts wegen sowie unparteiisch zu ermitteln hat (§ 24 VwVfG) und sich hierzu der erforderlichen Beweismittel bedienen darf (§ 26 VwVfG); die Anhörung Beteiligter, die nur in Ausnahmefällen unterbleiben darf (§ 28 VwVfG)[297] und das Recht der Beteiligten, Akteneinsicht zu erhalten (§ 29 VwVfG). Während im Unionsrecht eine Begründung obligatorisch ist (Art. 296 AEUV) und Verstöße in der Regel zur Aufhebung der Entscheidung führen, erkennt zwar auch das deutsche Verwaltungsrecht die Begründungspflicht als rechtsstaatliches Verfahrensprinzip an,[298] beschränkt diese aber auf schriftliche bzw. elektronische Verwaltungsakte (§ 39 Abs. 1 VwVfG), wobei es selbst hiervon teils weit reichende Ausnahmen vorsieht (§ 39 Abs. 2 VwVfG) und die Fehlerfolgen stark relativiert (§ 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3; § 46 VwVfG).
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Verwaltungsverfahren sind in Deutschland grundsätzlich nicht an eine bestimmte Form gebunden; sie sind „einfach, zweckmäßig und zügig durchzuführen“ (§ 10 VwVfG; vgl. für die europäische Ebene jetzt auch Art. 298 AEUV). Leitbild ist die der Ergebnisorientierung des deutschen Verwaltungsrechts entsprechende Effizienz des Verfahrens,[299] nicht seine Förmlichkeit. Auch das Verwaltungsverfahrensrecht kennt aber daneben besondere Verwaltungsverfahren.[300] Dies ist zum einen das förmliche Verwaltungsverfahren (§§ 63ff. VwVfG), das mit dem Herzstück der mündlichen Verhandlung (§§ 67f. VwVfG) dem Gerichtsverfahren angenähert ist. Zum anderen kommt gerade im Fachplanungsrecht[301] dem Planfeststellungsverfahren (§§ 72ff. VwVfG) besondere Bedeutung zu. Dieses zeichnet sich durch besonders anspruchsvolle, mit Elementen der planerischen Abwägung angereicherte prozedurale Instrumente aus, in deren Zentrum die Öffentlichkeitsbeteiligung steht.
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Gesetzliche Reformen seit Anfang der 1990er-Jahre haben die Förmlichkeit der Verwaltungsverfahren sukzessive zurückgedrängt und unter den Leitbildern der Beschleunigung, Deregulierung sowie Entbürokratisierung („Schlanker Staat“) zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland nicht nur Rechtsschutz abgebaut[302], sondern auch prozedurale Standards gelockert, insbesondere die Planfeststellung durch die Option der vereinfachten Plangenehmigung ersetzt (vgl. § 74 Abs. 6 VwVfG).[303] Überdies kam es in den letzten Jahren in Deutschland zu einer verstärkten Ausdifferenzierung des Verwaltungsverfahrens, bei der die „klassischen“ verfahrensrechtlichen Grundtypen (Verfahren der Gefahrenabwehr, Verfahren der Kontrolle privater Freiheitsbetätigung, Verfahren der Anlagenzulassung) durch „neue“ Verfahrenstypen (insbesondere Verteilungsverfahren, Qualitätssicherungsverfahren, Risikoverfahren) ergänzt wurden.[304]
b) Anpassungsstrategien und -probleme mit Blick auf die Europäisierung
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Gerade im Verfahrensrecht verlangt die Europäisierung dem deutschen Verwaltungsrecht nicht unerhebliche Anpassungen ab.[305] Das geringe Gewicht von Verfahrensfehlern, das ein besonderes Kennzeichnen des deutschen Verwaltungsrechts darstellt, gerät dabei in einen tendenziellen Konflikt mit der stärkeren Betonung des Verfahrens im Unionsrecht.[306] Rechtsvergleichend macht sich hierin besonders der Einfluss angelsächsischer und vor allem französischer Rechtstraditionen bemerkbar.[307] Eine stärkere Verfahrensbetonung zeigt sich aber auch in der Rechtsprechung des EGMR.[308] Der Gerichtshof misst der Einhaltung hinreichender Verfahrensstandards über Art. 6, 13 EMRK hinaus entscheidende Bedeutung bei der Rechtfertigung von Eingriffen in durch die Konvention garantierte Menschenrechte zu.[309] Auch hierdurch wird das deutsche Verwaltungsrecht stärker für eine (notwendige) Ergänzung durch prozedurale Standards und eine „verfahrensfreundliche“ Auslegung sensibilisiert.
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Im Vergleich zum deutschen Verwaltungsrecht ist das Unionsrecht somit von seinem Grundansatz her prozeduraler ausgerichtet,[310] auch wenn eine vielfach zu geringe Normierungs- und Systematisierungsdichte im europäischen Verwaltungsrecht in gewissem Kontrast zu der betonten Bedeutung von Organisation und Verfahren steht.[311] Mit dem Hang des europäischen Rechts zur „Entmaterialisierung“ der normativen Entscheidungsprogramme ist das deutsche Denken von Haus aus wenig vertraut.[312] Insbesondere die §§ 45, 46 VwVfG zeugen von einer gewissen „Geringschätzung“ des Verfahrens.[313] Dem korrespondiert eine hohe materielle Kontrolldichte der Verwaltungsgerichte, die beim Ergebnis des Verfahrens – eben der verwaltungsbehördlichen Entscheidung ansetzt. Folgen hat die Verfahrensfreundlichkeit des Unionsrechts etwa – entgegen der Rechtsprechung des BVerwG[314] – für den Fall einer unterlassenen oder mit schwerwiegenden Fehlern behafteten Umweltverträglichkeitsprüfung (keine Unbeachtlichkeit des Fehlers gemäß § 46 VwVfG).[315] Auch eine Fehlerheilung nach § 45 Abs. 2 VwVfG muss unterbleiben, soweit diese eine effektive Durchsetzung des Unionsrechts vereiteln würde.[316]
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