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Das Prinzip der Selbstverwaltung bildet ein zentrales und traditionsreiches Element der deutschen Verwaltungsorganisation.[129] Seine wichtigste Ausprägung ist die kommunale Selbstverwaltung. Bereits im aufgeklärten Absolutismus gab es Formen der kommunalen Selbstverwaltung. Damals wurde „Selbstverwaltung“ jedoch noch als eine besondere Form der Staatsverwaltung konstruiert, diente allein der Verwaltungseffizienz und unterlag daher uneingeschränkter Aufsicht des Staates.[130] Deutungsversuche der Selbstverwaltung als autonomes, vom Staat verselbständigtes Recht traten im 19. Jahrhundert hinzu. Wirkmächtig waren hier genossenschaftliche (Karl Freiherr vom und zum Stein, Otto von Gierke, Hugo Preuß)[131] und freiheitlich-grundrechtsanaloge[132] Konstruktionen, die aber letztlich unter dem Einfluss von anders akzentuierten Selbstverwaltungskonzepten wie dem „selfgovernment“ (Rudolf von Gneist) und vor allem des staatsrechtlichen Positivismus (Carl Friedrich von Gerber, Paul Laband, Georg Jellinek, Hermann Schulze) von den bis heute erhalten gebliebenen, formal-etatistisch ausgerichteten körperschaftlichen Selbstverwaltungsmodellen abgelöst wurden.[133] Eine institutionelle Gewährleistung auf Verfassungsebene, die von der zeitgenössischen Lehre ganz überwiegend weiter formal-etatistisch verstanden und an die später auch bei den Beratungen des Bonner Grundgesetzes (unter anderem) angeknüpft wurde,[134] erlangte die Selbstverwaltungsgarantie erstmals im Rahmen des Art. 127 WRV.[135]
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Heute bilden die Gemeinden und Kreise selbständige Rechts- und Hoheitsträger, die einerseits im Wege der Dezentralisierung aus der allgemeinen Staatsverwaltung ausgegliedert und mit Selbstverwaltungsrecht in eigenen Angelegenheiten sowie eigenständiger demokratischer Legitimation ausgestattet wurden (Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG), andererseits aber Teil der Landesverwaltung und damit organisierter Staatlichkeit im weiteren Sinne bleiben („im Rahmen der Gesetze“).[136] Bei Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG handelt es sich nach herrschender Meinung um eine institutionelle Garantie,[137] die aber jedenfalls zugleich im Interesse verfassungsrechtlichen Freiraumschutzes auch ein subjektives Recht gewährt.[138] Dieses Recht kann von den Gemeinden im Verwaltungsprozess sowie im Wege der Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG) vor dem BVerfG gegen den Staat verteidigt werden.
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Daneben gibt es verschiedene Formen der funktionalen Selbstverwaltung,[139] bei denen sich der Kreis der Betroffenen als „personales Substrat“ und damit Legitimationssubjekt nach bestimmten funktionsbezogenen Kriterien und jeweiligen Systemrationalitäten[140], meistens einer besonderen Aufgaben- bzw. Sachnähe, zusammensetzt. In zahlreichen Bereichen der Verwaltung wurden Selbstverwaltungsträger durch einfachgesetzliche Ausgliederung aus dem Staatsverband[141] gegründet, die gruppenspezifische Angelegenheiten der jeweiligen Betroffenen verwalten, so insbesondere die Träger der Sozialversicherung[142] und die berufsständischen bzw. wirtschaftlichen Selbstverwaltungskörperschaften (Kammern)[143]. Zur funktionalen Selbstverwaltung zählt überdies die „grundrechtsgetragene Selbstverwaltung“.[144] Wichtigster Fall ist die akademische Selbstverwaltung, die von der herrschenden Lehre aus der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) abgeleitet wird,[145] aber auch in den meisten Landesverfassungen als institutionelle Garantie gewährleistet ist.[146] Im Rundfunkrecht existieren zum Schutz der in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG radizierten Staatsfreiheit spezifische Selbst-verwaltungskonstruktionen.[147]
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„Die“ Selbstverwaltung hat sehr unterschiedliche rechtliche Grundlagen und ist daher zwar ein inhaltlich inhomogenes Organisationsprinzip,[148] sie zeichnet sich aber auch durch verbindende Elemente aus. Grundgedanke ist die Betroffenenverwaltung.[149] Einem abgrenzbaren Personenkreis werden Aufgaben übertragen, zu denen dieser ein besonderes Näheverhältnis besitzt. Entscheidendes Merkmal ist die eigenverantwortliche Aufgabenerfüllung durch den Selbstverwaltungsträger (Staatsdistanzprinzip).[150] Dies schließt in der Regel ein begrenztes Recht zur Normsetzung (Satzungsgewalt) ein.[151] Selbstverwaltung bedeutet auch Hoheitsverwaltung und ist daher von vornherein rechtlich auf einen konkreten, gesetzlich festgelegten Aufgabenkreis begrenzt. Korrelat zur Autonomie (Eigenverantwortlichkeit) ist die Staatsaufsicht, die ein verfassungsrechtlich unaufgebbares Essentiale von Selbstverwaltung darstellt.[152]
b) Reformtendenzen
aa) New Public Management und Neues Steuerungsmodell
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Die unter dem Schlagwort des New Public Management zusammengefassten Reformstrategien, die Anfang der 1990er-Jahre von Großbritannien ausgehend über Kanada, die USA, Australien und Neuseeland mit Verspätung auch auf dem europäischen Kontinent (zunächst Niederlande und Skandinavien, dann u.a. Deutschland) Einzug hielten,[153] zielten auf eine Übernahme von wettbewerbsorientierten Modernisierungserfahrungen aus dem Management der Privatwirtschaft für die öffentliche Verwaltung.
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Kernbestandteile des New Public Management sind die Trennung zwischen der strategischen Planung bzw. Aufgabendefinition durch die politische Führung (Prinzipal) und der operativen Umsetzung durch die Verwaltung (Agent), die Umwandlung zentralistischer Matrixstrukturen innerhalb des Verwaltungsaufbaus in weitgehend autonome, sich selbst steuernde Einheiten mit dezentraler Ressourcenverantwortung (Konzernstruktur), die Konzentration auf staatliche Kernaufgaben und die Auslagerung von öffentlichen Aufgaben (Privatisierung, Contracting Out , Public-Private-Partnership ), die Ausrichtung der Leistungserbringung am Bürger als Kunden, die Marktorientierung durch Einführung von Wettbewerbselementen (z.B. Benchmarking ), die stärkere Outputorientierung durch Kosten-, Leistungs- und Wirkungskontrolle ( Controlling )[154] sowie die gezielte Organisations- und Personalentwicklung.[155]
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Von der kommunalen Ebene ausgehend wurde in Konkretisierung des New Public Management unter Federführung der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt) ein Neues Steuerungsmodell (NSM)[156] entwickelt, zunächst über kommunalrechtliche Experimentierklauseln erprobt und, soweit es sich bewährte, dauerhaft in die Gemeindeverfassungen sowie in angepasster Form auch in die Gesetze in anderen Selbstverwaltungsbereichen (z.B. Hochschule)[157] übernommen. Ziel des NSM ist es, dem Leitbild der Verwaltung als „Dienstleistungsunternehmen“ folgend, die Effizienz und die Effektivität des Verwaltungshandelns zu steigern sowie die Bürgerinteressen als „Kundeninteressen“ stärker zu berücksichtigen, was zu mehr Wettbewerb, mehr Transparenz und einer neuen Verwaltungskultur beitragen soll. Das NSM verkoppelt hierfür organisations-, verfahrens-, haushalts- und dienstrechtliche Elemente. Es basiert auf einem Konzept, in dessen Mittelpunkt ein Verständnis von administrativen Leistungen als Produkte steht (Outputorientierung).[158]
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Kernbestandteile des NSM sind: Budgetierung[159], dezentrale Zusammenführung von Fach- und Ressourcenverantwortung, Leistungsabsprachen bzw. Zielvereinbarungen zwischen politischer Führung und Verwaltung (Kontraktmanagement)[160], ein Verwaltungscontrolling (mit kaufmännischem Rechnungswesen sowie Kosten- und Leistungsrechnung) sowie eine veränderte, stärker kooperative und vertrauensbasierte Staatsaufsicht einschließlich der Ausdifferenzierung neuer Aufsichtsformen[161].
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Ergänzt wurden die kommunalen Reformen durch Modernisierungsstrategien auf Ebene der Länder - und der Bundesverwaltung[162].[163] Die Reformen reichten dabei von der Einführung dezentraler Budgetverantwortung und der Kosten- und Leistungsrechnung (§ 6 Abs. 3, § 33 HGrG) über Elemente des Qualitätsmanagements (Leitbildentwicklung, Mitarbeiterbefragung, Workshops, Qualitätszirkel, Führungspositionen auf Zeit) und die Schaffung von Bürgerämtern bis hin zur Veranstaltung von Qualitätswettbewerben.[164] Selbst im Bereich der Justiz (-verwaltung) entfaltet das NSM seine Wirkungen.[165]
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