bb) Hinreichend qualifizierte Verletzung
18
Die Verletzung einer Schutznorm löst die Haftungsfolge nur aus, wenn sie in hinreichender Weise qualifiziert ist. Hinreichend qualifiziert ist die Rechtsverletzung, wenn das handelnde Organ die Grenzen seiner Befugnisse offenkundig und erheblich überschritten hat (EuGH, Urt. v. 25.5.1978, 83/76 u.a. – HNL Vermehrungsbetriebe –, Rn. 6). Bei der Frage des Vorliegens von Offenkundigkeit ist das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift zu berücksichtigen (EuGH, Urt. v. 5.3.1996, C-46/93 u.a. – Brasserie du Pêcheur –, Rn. 56). Für die Frage der Erheblichkeit ist entscheidend die Vorsätzlichkeit des Verstoßes oder der Schadensherbeiführung, die Entschuldbarkeit oder Unentschuldbarkeit eines etwaigen Rechtsirrtums und der Umstand, dass das Handeln des Unionsorgans oder der Bediensteten möglicherweise dazu beigetragen hat, dass nationale Maßnahmen oder Praktiken in unionsrechtswidriger Weise unterlassen, eingeführt oder aufrechterhalten wurden (EuGH, Urt. v. 5.3.1996, C-46/93 u.a. – Brasserie du Pêcheur –, Rn. 56). Jedenfalls ist ein Verstoß gegen das Unionsrecht hinreichend qualifiziert, wenn im Widerspruch gegen ein Urteil oder die gefestigte einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofes, aus denen sich die Pflichtwidrigkeit des fraglichen Verhaltens ergibt, gehandelt wird (EuGH, Urt. v. 5.3.1996, C-46/93 u.a. – Brasserie du Pêcheur –, Rn. 57).
19
Maßgeblich ist ferner, ob dem Organ ein Entscheidungsspielraum zustand, der Spielraum auf Null reduziert ist oder ob ein gebundener Beschluss vorlag. Diese Unterscheidung ist notwendig, da bei der Verneinung eines Gestaltungsspielraums bereits der bloße Verstoß gegen eine unionsrechtliche Schutznorm zur Begründung einer hinreichend qualifizierten Verletzung ausreichend ist (EuGH, Urt. v. 4.7.2000, C-352/98 – Bergaderm/Kommission –, Rn. 44; Urt. v. 23.5.1996, C-5/94 – Hedley Lomas –, Rn. 28). Wenn das Organ aber die Handlung in Ausübung eines weiten Ermessens erlassen hat, setzt die Haftung der Union weiter voraus, dass „eine qualifizierte, nämlich eine offensichtliche und schwerwiegende Verletzung“ vorliegt (EuG, Urt. v. 15.4.1997, T-390/94 – Schröder und Thamann –, Rn. 52; EuG, Urt. v. 5.5.1998, T-481/93 u.a. – Exporteurs in Levende –, Rn. 81).
20
Ein Verschulden wird in Art. 340 UAbs. 2 AEUV nicht als Voraussetzung der Amtshaftung genannt. Der EuGH verzichtet auf die Verschuldensprüfung (vgl. EuGH, Urt. v. 28.4.1971, 4/69 –, Lütticke/Kommission –). Die Haftung der Union erfolgt somit heute verschuldensunabhängig. Eingeschränkt wird die verschuldensunabhängige Haftung der Union aber durch die Voraussetzung einer hinreichend qualifizierten Verletzung (s. Rn. 17 f.). In diesem Zusammenhang kann berücksichtigt werden, ob Entschuldigungsgründe oder Schuldausschließungsgründe vorliegen (EuG, Urt. v. 26.1.2006, T-364/03 – Medici Grimm/Rat –, Rn. 81, 87 f.). Die Frage eines Mitverschuldens des Geschädigten kann ebenfalls in diesem Rahmen erwogen werden.
21
Erfasst werden vom amtshaftungsrechtlichen Schadensbegriff neben Vermögenseinbußen auch Einbußen an sonstigen rechtlich geschützten Gütern, einschließlich nichtvermögenswerten Rechten (immaterieller Schaden; vgl. EuGH, Urt. v. 14.5.1998, C-259/96 P – de Nil –, Rn. 48 ff.). Der ersatzfähige Schaden berechnet sich nach der Differenzmethode und kann auch einen entgangenen Gewinn umfassen (s. EuGH, Urt. v. 19.5.1992, C-104/89 – Mulder/Rat und Kommission –, Rn. 26).
22
Der Schaden muss durch die Organe oder Bediensteten der Union in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursacht worden sein. Zwischen der Handlung und dem behaupteten Schaden muss ein unmittelbarer (EuGH, Urt. v. 4.10.1979, 64/76 u.a. – Dumortier Frères –, Rn. 21) und ursächlicher (EuGH, Urt. v. 2.7.1974, 153/73 – Willemsen –, Rn. 7) Zusammenhang bestehen. Das Merkmal der Unmittelbarkeit bringt zum Ausdruck, dass nicht jede noch so entfernte nachteilige Folge zum Schadensersatz verpflichtet (EuGH, Urt. v. 4.10.1979, 64/76, – Dumortier Frères –, Rn. 21). Die Ursächlichkeit wird mit der Adäquanztheorie konkretisiert. Unmittelbar kausal sind nur diejenigen Handlungen, die nach der allgemeinen Lebenserfahrung typischerweise geeignet sind, einen Schaden wie den eingetretenen zu verursachen. Der kausale Zusammenhang zwischen rechtswidrigem Verhalten und Schadenseintritt ist aber zu verneinen, wenn der gleiche Erfolg auch bei rechtmäßigem Verhalten oder ohne Amtstätigkeit eingetreten wäre (EuGH, Urt. v. 4.2.1975, 169/73 – Compagnie Continentale France/Rat –, Rn. 32; Urt. v. 29.9.1982, 26/81 – Oleifici Mediterranei/Rat –, Rn. 22 ff.).
A› Amtshaftungsklage (Gilbert H. Gornig)› IV. Rechtsfolgen
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Die Rechtsfolge des Art. 340 UAbs. 2 AEUV ist auf Ersatz des verursachten Schadens gerichtet. Dies kann außer durch Geldersatz auch im Wege der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands (Naturalrestitution) erfolgen. Die einer Amtshaftungsklage stattgebende Entscheidung ergeht, soweit die Union zur Schadensersatzleistung verurteilt wird, in Form eines vollstreckbaren Leistungsurteils. Die Vollstreckung erfolgt gem. Art. 280 i.V.m. Art. 299 UAbs. 2–4 AEUV. Soweit lediglich die Unionshaftung dem Grunde nach festgestellt wird, ergeht das Urteil in Form eines nicht vollstreckbaren Feststellungsurteils. Die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Unionsrechtsmaßnahme wirkt nur zwischen den Parteien.
A› Amtshaftungsklage (Gilbert H. Gornig)› V. Haftung für rechtmäßiges Handeln
V. Haftung für rechtmäßiges Handeln
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Der Wortlaut des Art. 340 UAbs. 2 AEUV lässt auch eine Haftung für rechtmäßiges Verhalten zu. Das EuG hat unter Verweis auf einen möglichen Allgemeinen Rechtsgrundsatz gleichen Inhalts einen aus Art. 340 UAbs. 2 AEUV abzuleitenden Haftungstatbestand für rechtmäßiges Verhalten grundsätzlich anerkannt (EuG, Urt. v. 14.12.2005, T-320/00 – CD Cartondruck/Rat –, Rn. 150). Voraussetzung ist danach ein Schaden, der von einem EU-Organ oder einem Bediensteten verursacht worden ist. Als einschränkendes Kriterium wird aber ein Sonderopfer verlangt. Dieses Sonderopfer ist gegeben, wenn ein „außergewöhnlicher“ und „besonderer“ Schaden verursacht wurde (EuG, Urt. v. 14.12.2005, T-69/00 – FIAMM –, Rn. 160).
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Nachdem der EuGH zunächst das Bestehen eines solchen Anspruchs offengelassen, gleichwohl die etwaigen Haftungsvoraussetzungen (besonderer und außergewöhnlicher Schaden) aber bereits akzeptiert hatte, lehnt der EuGH (Urt. v. 9.12.2008, C-120/06 u.a. – FIAMM –, Rn. 164 ff.; zur vorangegangenen, gegenteiligen Rechtsprechung des EuG s. die Bestandsaufnahme ebd., Rn. 52 ff.) nunmehr eine Haftung aus Art. 340 UAbs. 2 AEUV für rechtmäßiges Handeln der Organe und Bediensteten ab. Nach seiner Ansicht kann eine Haftung für rechtmäßiges Handeln der EU schon deshalb nicht als Allgemeiner Rechtsgrundsatz gelten, weil jedenfalls für normatives Handeln der Mitgliedstaaten (Gesetzgebung) keine diesbezügliche Übereinstimmung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bestehe. Vor diesem rechtlichen Hintergrund dürfte insbesondere eine Haftung der EU für von ihr verhängte → Restriktive Maßnahmen (Wirtschaftssanktionen)kaum mehr in Betracht zu ziehen sein.
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Erwogen hat der EuGH (ebd., Rn. 184) allerdings, dass ein unionsrechtlicher Rechtsetzungsakt, dessen Anwendung zu Beschränkungen des Eigentumsrechts oder der Berufsfreiheit führt, unverhältnismäßig ist, „weil keine zur Vermeidung oder zum Ausgleich dieser Beeinträchtigung geeignete Entschädigung vorgesehen wurde“, und der Rechtsetzungsakt deshalb eine außervertragliche Haftung gem. Art. 340 UAbs. 2 AEUV auslösen kann. Dies ist dann allerdings ein Anwendungsfall der Haftung für rechtswidriges (normatives) Handeln der Union.
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