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Der erste belgische ombudsman wurde 1989 von der Stadt Antwerpen und der französischsprachigen Gemeinschaft in Form eines „Allgemeinen Beauftragten für Kinderrechte und Jugendhilfe“ eingesetzt.[184] Die hierdurch in Gang gesetzte Entwicklung[185] führte zur zunehmenden Einsetzung von ombudsmen auf Gemeindeebene[186] sowie von allgemeinen, für die gesamte Verwaltung zuständigen Ombudsstellen.[187] Zuletzt wurden durch Gesetz vom 22. März 1995[188] auch auf föderaler Ebene Bundes-Ombudsstellen geschaffen. Gemäß Art. 14 bestehen deren Hauptaufgaben darin, die im Zusammenhang mit der Tätigkeit von Bundesbehörden erhobenen Beschwerden zu prüfen, auf ein entsprechendes Ersuchen der Abgeordnetenkammer hin die Arbeitsweise der Bundesbehörden zu untersuchen, auf der Grundlage der im Rahmen dieser Aufgaben gewonnenen Erkenntnisse Empfehlungen zu erarbeiten und einen Bericht über die allgemeine Arbeitsweise der Verwaltung zu erstellen.[189] Die beiden Bundes-Ombudsstellen – einer französischsprachig, der andere niederländischsprachig – werden von der Abgeordnetenkammer für eine sechsjährige Amtszeit gewählt. Eine Wiederwahl ist zulässig.
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Zur Vermeidung unnötiger Anrufungen der Ombudsstellen muss der Bürger zunächst Widerspruch vor der Behörde einlegen, die die Verwaltungsmaßnahme erlassen hat. Damit ist „das Widerspruchsverfahren einer Anrufung einer Ombudsstelle zwingend vorgeschaltet“[190]. Bis 2014 bewirkte die Anrufung einer Ombudsstelle keine Hemmung oder Unterbrechung der Fristen für Widerspruchsverfahren und Klageerhebung vor den Verwaltungsgerichten; vielmehr wurde die durch die Ombudsstelle vorgenommene Prüfung der Beschwerde automatisch ausgesetzt, wenn ein Widerspruchsverfahren in Gang gesetzt oder eine Klage angestrengt wurde. Dies führte „zu dem paradoxen Ergebnis […], dass es faktisch unmöglich war, gleichzeitig mit Hilfe der Ombudsstelle nach einer gütlichen Einigung zu suchen und eine Nichtigkeitsklage vor dem Staatsrat zu erheben“[191]. Seit einem Gesetz vom 20. Januar 2014 sieht der neu geschaffene Art. 19 Abs. 3 KGSR eine Hemmung der Frist für Klagen vor dem Staatsrat vor. Die Hemmung endet entweder mit dem Zeitpunkt, in dem der Beschwerdeführer von der Entscheidung in Kenntnis gesetzt wird, seine Beschwerde nicht zu behandeln oder zurückzuweisen, oder mit Ablauf von vier Monaten nach Einlegung der Beschwerde.
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Bis zum Inkrafttreten des Gesetzes vom 19. Mai 1998, durch welches die Vorschriften des Code judiciaire zu den Schiedsverfahren geändert wurden,[192] konnten staatliche Stellen im Allgemeinen nicht auf ein Schiedsverfahren zur Streitbeilegung zurückgreifen. In seiner heutigen Fassung bestimmt Art. 1676 §§ 2 und 3 Code judiciaire hingegen, dass „[e]ine Schiedsvereinbarung […] eingehen [kann], wer die Fähigkeit oder die Befugnis hat, einen Vergleich zu schließen. Unbeschadet gesetzlicher Sondervorschriften, dürfen juristische Personen des öffentlichen Rechts eine Schiedsvereinbarung nur dann eingehen, wenn diese Streitigkeiten über einen Vertrag beilegen soll. Für den Abschluss der Schiedsvereinbarung gelten dieselben Bedingungen wie für den Abschluss des Vertrages, der den Gegenstand des Schiedsverfahrens bildet. Darüber hinaus können juristische Personen des öffentlichen Rechts eine Schiedsvereinbarung auch in allen anderen durch Gesetz oder im Ministerrat beschlossenen königlichen Erlass festgelegten Fällen eingehen […].“
§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien› III. Funktion und Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit › 5. Selbstverständnis der Verwaltungsgerichtsbarkeit und Deutungsangebote der Rechtslehre
5. Selbstverständnis der Verwaltungsgerichtsbarkeit
und Deutungsangebote der Rechtslehre
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Mit dieser Frage hat sich die belgische Rechtswissenschaft bisher nicht auseinandergesetzt. Sie enthält jedoch unzweifelhaft einen soziologischen Aspekt, den es bei ihrer Behandlung zu berücksichtigen gälte. Aufgrund der mehrsprachigen Struktur Belgiens können durchaus unterschiedliche Auffassungen und Antworten je nach berücksichtigtem Sprachen-Spektrum bestehen.
§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien› III. Funktion und Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit › 6. Gegenseitige Beeinflussung der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der Rechtswissenschaft
6. Gegenseitige Beeinflussung der Verwaltungsgerichtsbarkeit
und der Rechtswissenschaft
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Der Gründung des Staatsrates gingen unzählige rechtswissenschaftliche Beiträge voraus. Es ist daher wenig verwunderlich, dass die Tätigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit von der Fachliteratur aufmerksam begleitet wird. In zahlreichen Fachzeitschriften werden im Übrigen nicht nur Aufsätze zur Verwaltungsgerichtsbarkeit, sondern auch Urteile des Staatsrates veröffentlicht, so beispielsweise in der Zeitschrift Administration publique – trimestriel (APT). Diese Zeitschrift verbindet die Veröffentlichung von Urteilen des Staatsrates mit der Publikation von Kommentaren und Anmerkungen zu Urteilen oder themenbezogenen Studien. Auf diese Weise trägt sie zur Weiterentwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit und des Verwaltungsrechts bei. Darüber hinaus veröffentlichen auch die einzelnen Mitglieder des Staatsrates allgemeine Monographien zum Staatsrat und rechtswissenschaftliche Aufsätze.
§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien› III. Funktion und Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit › 7. Die Rolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit bei der Fortentwicklung des Verwaltungsrechts
7. Die Rolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit bei der Fortentwicklung
des Verwaltungsrechts
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Die Verwaltungsgerichtsbarkeit trägt unzweifelhaft dazu bei, dass die Grundsätze guter Verwaltung von den Behörden befolgt und diese effektiv durchgesetzt werden. Die Rechtsprechung im Allgemeinen und die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Besonderen haben darüber hinaus auch ursprünglich als grundlegend erachtete Vorstellungen und Privilegien der Exekutive begrenzt. Durch die Zulassung eines dem Grunde nach allgemeinen vorläufigen Rechtsschutzverfahrens (Möglichkeit eines Antrags auf Aussetzung der Durchführung einer Verwaltungsmaßnahme und – bei Erfolg – der Verhängung eines Zwangsgeldes[193]) hat der Gesetzgeber auch allgemeine Grundsätze, wie z.B. die Vermutung der Rechtmäßigkeit der Rechtsakte der Verwaltung oder auch den Grundsatz der unmittelbaren Vollstreckbarkeit einer Verwaltungsmaßnahme, relativiert. Gleichwohl müssen die Bürger den Entscheidungen der Verwaltung grundsätzlich nach wie vor Folge leisten, solange diese nicht von einem Gericht für rechtswidrig erklärt worden sind.[194]
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Darüber hinaus ist es nunmehr möglich, auch den Vollzug einer Nichtigkeitserklärung durch Verhängung eines Zwangsgeldes zu erzwingen. All diese Gesichtspunkte verdeutlichen die Präsenz eines neuen Verständnisses des Verwaltungshandelns: es wird zunehmend versucht, die Allmacht der Verwaltung zurückzudrängen, diese wird „immer mehr wie eine gewöhnliche Beteiligte an einem Rechtsstreit“[195] angesehen.
§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien› IV. Die rechtlichen Grundlagen der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Kontext
IV. Die rechtlichen Grundlagen der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Kontext
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